Zum Hauptinhalt springen
Wahl in Brasilien

Schicksalswahl in Brasilien

von Heinz Bierbaum

Roberto Casimiro / Fotoarena / IMAGO
Es ist eine schwierige Wahl, eine Entscheidung zwischen Autoritarismus und Demokratie. Lola führt in den Umfragen. Wird er sich auch durchsetzen können?

1.10.2022


Am 2. Oktober finden in Brasilien Präsidentschaftswahlen statt. Diese Wahl hat nicht nur für Brasilien und für Lateinamerika eine außerordentlich hohe Bedeutung, sondern auch international. Gegenüber stehen sich der gegenwärtige Präsident Jair Bolsonaro und der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula de Silvia („Lula“). Es geht um eine Richtungsentscheidung. So wird in Brasilien allgemein die Wahl als Entscheidung zwischen Autoritarismus und Demokratie qualifiziert.

Lula ist Favorit und führt in den Meinungsumfragen. Nach anfangs großem Vorsprung hat sich der Abstand deutlich verringert. Lula wird nicht nur von seiner Partei, der PT (Partei der Arbeiter) unterstützt, sondern von einem breiten progressiven Wahlbündnis aus linken Parteien, sozialen Bewegungen und indigenen Gruppen. So hat die gegenüber der PT sehr viel kleinere, doch zunehmend an Bedeutung gewinnende linke Partei PSOL (Partei Freiheit und Sozialismus) auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten verzichtet. Unter den sozialen Bewegungen ist besonders die Landlosen-Bewegung MST zu nennen. Es handelt sich dabei um eine Massenbewegung mit großer sozialer Verankerung und hat sich insbesondere eine grundlegende Agrarreform zum Ziel gesetzt.

Sie alle engagieren sich, um einen Wahlsieg Lulas im ersten Wahlgang zu ermöglichen. Dies ist freilich unsicher, war doch Lula bei zum Teil durchaus besseren Bedingungen bisher immer nur im zweiten Wahlgang erfolgreich. Die Orientierung auf einen Sieg im ersten Wahlgang wird auch mit der Sorge begründet, dass es zwischen den beiden Wahlgängen – der zweite Wahlgang findet am 30. Oktober statt – zu Unruhen und gefährlichen Zwischenfällen kommen könnte.

Lula selbst, aber auch die ich ihn unterstützenden Organisationen, schließen zwar einen Militärputsch aus, doch Gefahr könnte von den zahlreichen der Rechten zurechnenden Schützenvereine ausgehen. Bolsonaros freizügige Waffengesetzgebung hat dafür gesorgt, dass sehr viele Waffen im Umlauf sind. Ein Zeichen für die angespannte Lage und die durchaus vorhandenen Gefahren für eine ordnungsgemäß ablaufende Wahl ist die vor wenigen Wochen erfolgte Ankündigung eines allerdings nicht sehr bedeutsamen Unternehmerverbandes, dass man einen Staatsstreich einem Sieg der PT vorziehen würde. Inzwischen ist gegen diesen Verband auch ermittelt worden. Die Lage wird insbesondere auch durch Äußerungen Bolsonaros im Stile Trumps verschärft, dass seine Wahlniederlage nur durch Manipulation zustande kommen könne.

Das Land hungert wieder

Das Land selbst befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen und sozial dramatischen Lage. Zwar hat sich die Wirtschaft 2022 besser als erwartet entwickelt, doch ist sie weiterhin sehr schwach. Die Aussichten für 2023 und 2024 sind eher trübe. Auch hat die Inflation zugenommen.  Während in der Amtszeit von Lula Brasilien von der Hungerkarte verschwunden war, ist das Land unter Bolsonaro wieder auf sie zurückgekehrt. Studien zufolge beträgt die Zahl der unter Hunger und Ernährungsunsicherheit leidenden Menschen 33 Millionen. Auch wurde das Land aufgrund der verfehlten Politik Bolsonaros stark von Corona betroffen, deren Existenz Bolsanoro anfangs sogar leugnete. 685.000 Tausend Tode sind die erschreckende Bilanz.

Unter Bolsonaro ist das Land international auch im Hinblick auf Wirtschaftsbeziehungen stark isoliert. Dies zeigt sich z.B. bei dem für Brasilien wichtigen Abkommen Mercosur, wo Bolsanoro bei der Umsetzung des Abkommens mit der EU eher ein Hindernis darstellt. Lula will dies im Übrigen noch einmal einer Prüfung unterziehen. Besonders schlimm sind die ökologischen Auswirkungen seiner Präsidentschaft, was auch international stark kritisiert wird. Die Abholzung der Regenwälder nimmt ein gigantisches Ausmaß an. Monokulturen breiten sich immer weiter aus, obwohl dies eigentlich von der Verfassung nicht erlaubt ist. Rücksichtslos und gewalttätig gehen die von Bolsonaro unterstützten Großgrundbesitzer gegen die Landbevölkerung vor. Besonders leiden auch die indigenen Völker, deren Territorien ausgeplündert werden.

Angesichts der autoritären und auch gewalttätigen Führung, der international geächteten Zerstörung von ökologisch außerordentlich wichtigen Regenwäldern., dem Hunger und sozialem Elend und angesichts der keineswegs positiven wirtschaftlichen Bilanz, fragt man sich, warum sich Bolsonaro halten kann und ein neuerlicher Wahlsieg nicht auszuschließen ist. Bolsonaros Machtbasis liegt beim einflussreichen Agrobusiness und bei den Evangelikalen, der sogenannten Pfingstkirche. Diese zeichnen sich durch ein überaus reaktionäres Weltbild aus und leugnen auch den Klimawandel vor. Deren Einfluss ist in dem an sich katholischen Brasilien stark angewachsen. Ihr gehören inzwischen rd. 30 Prozent der Bevölkerung an.

Das gilt auch in der Arbeiterklasse und in den Favelas, den Armengebieten. Wo die Linke in früheren Jahren gut verankert war. Hier zeigt sich eine Schwäche der PT, die in den letzten Jahren deutlich an Mobilisierungsfähigkeit verloren hat, was von der Linken in der Partei seit langem kritisiert wird. Auch aktuell ist im Wahlkampf festzustellen, dass es im Wahlkampf an entsprechenden Kampagnen fehlt. Außerdem kann Bolsonaro sich auf das Militär stützen, das er privilegiert behandelt. Zudem setzt er alle ihm als Präsident zur Verfügung stehenden Mittel ein, um die Wähler zu beeinflussen – u.a. durch ein allerdings befristetes Sozialprogramm.

Lula will das Land wieder aus seiner internationalen Isolation herausführen. Er will dem ökologischen Raubbau Einhalt gebieten. Es geht es ihm darum, den Wiederaufbau des Landes mit öffentlichen Investitionen und dem Stopp der Privatisierung wirtschaftlich wieder Schwung zu verleihen, vor allem aber die Ungleichheit und den Hunger zu bekämpfen. Dazu gehört weiterhin die Rücknahme der reaktionären Arbeitsmarktreform. Einen großen Stellenwert wird eine Agrarreform einnehmen, was insbesondere auch von seinen Unterstützern wie etwa dem MST eingefordert wird.

Erwartungen sind hoch

Die Erwartungen des ihn unterstützenden progressiven Bündnisses sind hoch. Sie sind sehr skeptisch, dass Lula als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten ausgerechnet Geraldo Alckmin vom PSB (Sozialistische Partei Brasiliens) und früherer Bürgermeister von São Paulo in sein Team geholt hat, hat er sich doch in der Vergangenheit alles andere als progressiv erwiesen. Es ist dies ein Versuch, stärker das bürgerliche Lager einzubinden. Das wird zwar gegenwärtig von seinen progressiven Unterstützern akzeptiert, doch sie haben bereits jetzt deutlich gemacht, dass sie nach einem Wahlsieg offensiv die Auseinandersetzung um eine progressive Politik angehen werden.

Die Wahl in Brasilien ist im Kontext der politischen Entwicklung in Lateinamerika insgesamt zu sehen. Nach Jahren der Erstarkung der Rechten ist jetzt eine Entwicklung hin zu progressiven Bewegungen und Regierungen festzustellen. Das begann mit der Wahl des Linkskandidaten Pedro Castillo in Peru im Juli 2021. Im November 2021 wurde die Linkspolitikerin Xiomaro Castro in Honduras zur Präsidentin gewählt und ist damit die erste Frau an der Spitze des Staates. Und im Dezember 2021 folgte die Wahl von Gabriel Boric, dem Kandidaten des linken Bündnisses „Apruebo Dignidad“ zum Präsidenten Chiles. Im Juni 2022 schließlich wurde Gustavo Petro, unterstützt durch das linke Wahlbündnis „Coalición Pacto Histórico“, in Kolumbien zum Präsidenten gewählt. Linke Hoffnungen richten sich dabei besonders auf die erste schwarze Vizepräsidentin Francia Márquez.

Es handelt sich durchweg um historische Brüche, wobei freilich die politische Lage wie z.B. in Peru nicht gefestigt, sondern unsicher ist. Auch Rückschläge blieben nicht aus, wie die Ablehnung des progressiven Verfassungsentwurfs in Chile beweist. Ein Wahlsieg Lulas in Brasilien wäre eine äußerst hilfreiche Unterstützung der linken und progressiven Regierungen. Der Wahlausgang in Brasilen hat ganz sicher Auswirkungen auf die weitere Entwicklung in Argentinien. Dort ist die politische Situation sehr angespannt. So wird gemutmaßt, dass der Attentatsversuch auf Christina Kirchner Teil eines generellen Umsturzversuches sein könnte.

Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.