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Julieta Ferrario / imago images / ZUMA Press

3.2.2020

Ein feministischer Blick auf die Vorhaben der neuen Regierung in Argentinien


von Florencia Puente

Im vergangenen Dezember trat Alberto Fernández vom Bündnis "Frente de Todos" sein Amt als Präsident Argentiniens an und leitete damit einen neuen Zyklus im Umgang mit feministischen Forderungen ein. In Argentinien ist die Bewegung von Frauen und queeren Menschen radikal und hat große Möglichkeiten, die aktuelle Politik zu beeinflussen.

Alberto Fernández war gemeinsam mit der ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner als Vizepräsidentschaftskandidatin angetreten. Hinter diesem geschickten Schachzug steht Kirchner. Geschickt, denn dadurch konnte die rechte Regierung von Mauricio Macri besiegt, die Opposition zusammengeführt und viele Konflikte innerhalb des Peronismus aufgelöst werden.

Aber diese gemeinsame Kandidatur bedeutete auch eine Rückkehr zu Präsidentschaftswahlen ohne weibliche Kandidatinnen und gleichzeitig das Ende einer Phase von Präsidentinnen in Lateinamerika. Sicherlich ist die Präsenz von Frauen in Regierungsämtern keine Garantie für die Erfüllung von feministischen Forderungen oder die Öffnung für ihre Debatten. Aber historisch gesehen ergab sich durch verschiedene Frauen in leitenden Ämtern zwischen 2006 und 2018 ein einzigartiger Moment in Lateinamerika, um die patriarchale Gestalt von Parteien und Regierungen im politischen und institutionellen System der heutigen Demokratien sichtbar zu machen.

Im Gegensatz zu Macris Kabinett, das mehrheitlich mit Geschäftsleuten besetzt war, sind im Kabinett Fernández Frauen, junge Menschen und Akademiker*innen vertreten. Doch trotzdem werden von den 21 durch den Präsidenten geschaffenen Ministerien nur vier von Frauen geleitet: Regionale Entwicklung und Lebensraum, Justiz und Menschenrechte, Sicherheit und das neue Ministerium für Frauen, Geschlecht und Vielfalt. In letzterem arbeiten namhafte feministische Aktivistinnen in verschiedenen Bereichen daran, die Geschlechterpolitik im gesamten Regierungsprogramm zu verankern und auch in den Bundesstaaten anzustoßen. Die zuständige Ministerin Elizabeth Gómez Alcorta grenzt sich klar von der Politik der Vorgängerregierung ab und will mit einem umfassenden Ansatz dem Problem der männlichen Gewalt begegnen und außerdem einen „nationalen Fürsorgeplan“ umsetzen, um die strukturelle Ungleichheit abzuschwächen. Außerdem will sie sexuelle Vielfalt durch ein Trans-Quoten-Gesetzt stärken. Alle Staatsangestellten sollen zu Geschlechterfragen und Gewalt geschult werden und Präsident Alberto Fernández selbst nahm bereits am ersten Seminar teil.

Auch andere Initiativen in diesen ersten Monaten der Regierung zeugen von einer Bereitschaft feministische Auseinandersetzungen zu führen. So trafen sich vor einigen Wochen mehr als hundert Ministerinnen, Staatssekretärinnen und Ministerialdirektorinnen auf Bundesebene mit dem Ziel, Maßnahmen zur Förderung einer geschlechterpolitischen Agenda und zur „Überwindung der patriarchalen Strukturen in der Regierung“ zu erarbeiten. Sie kritisierten auch eine fehlende Parität bei Konferenzen und Veranstaltungen der eigenen Regierung. In der Folge schuf das Außenministerium eine Abteilung für Frauen- und Geschlechterfragen. Auch das Wirtschaftsministerium, das derzeit an einem Reformplan arbeitet, schuf eine Abteilung für Wirtschaft und Geschlecht, die von der feministischen Ökonomin, Mercedes D'Alessandro geleitet wird. Sie erkennt den sexistischen Aspekt von Armut an und will „die Lücken in der Verteilung von Einkommen und sozialem Reichtum verringern“. 40 Prozent der Bevölkerung oder 16 Millionen Menschen in Argentinien sind arm.

Mit diesen Initiativen - und weiteren Vorschlägen in den Bereichen der Einwanderungspolitik, der Sicherheit und Justiz, sowie der Menschenrechte - löst die Regierung Fernández Forderungen des progressiven Milieus ein, ohne deren Stimmen dem Peronismus die Rückkehr an die Macht nicht gelungen wäre. Vieles ist im Moment noch offen und an mancher Stelle entsteht der Eindruck, dass es in erster Linie um öffentlichkeitswirksame Maßnahmen ohne viel Gehalt handelt, um von den einschneidenden Wirtschaftsreformen abzulenken. Letztes Jahr verabschiedete das Parlament ein Gesetz zum wirtschaftlichen Notstand um die technische Insolvenz zu umgehen, denn Argentinien kann seinen Verpflichtungen gegenüber verschiedenen internationalen Kreditagenturen nicht nachkommen.

Der Schlüssel für die feministische Bewegung ist die Verabschiedung eines Gesetzes über den legalen Schwangerschaftsabbruch, das nicht nur die Entkriminalisierung, sondern auch den sicheren und freien Zugang zu Abtreibungen regeln soll. Bereits vor zwei Jahren wurde diese Debatte im Parlament geführt. Vorangegangen war eine zwölf Jahre lange nationale Kampagne, die wiederholt entsprechende Gesetzesvorlagen eingebracht hatte. Inmitten einer großen Mobilisierungswelle der feministischen Bewegung wurde das Gesetz zwar nach einer ausführlichen politischen und gesellschaftlichen Debatte im Parlament verabschiedet, aber der konservative Senat lehnte es schließlich doch ab.

Der Peronismus ist von dieser Debatte stark gespalten, selbst Cristina Kirchner hatte während ihrer Amtszeit ein Veto eingelegt und schließlich 2018 ihre Position zugunsten von Schwangerschaftsabbrüchen geändert.

Alberto Fernández verhält sich in dieser Frage widersprüchlich. Einerseits traf er sich kurz nach seinem Amtsantritt mit Vertreter*innen der Kampagne für das Recht auf Abtreibung und erklärte sich gemeinsam mit der Gesundheits- und Frauenministerin dazu bereit, Abtreibung als eine Frage des öffentlichen Gesundheitswesens zu debattieren. Auf der anderen Seite steht Fernández in engem Dialog mit dem Vatikan. Er wird bald den Papst besuchen. Wichtig deshalb, weil die Blockade des Gesetzes im Jahr 2018 auf die katholische Kirche zurückgeht .

Auch die Kampagne für das Recht auf Abtreibung ist von der gesellschaftlichen Polarisierung geprägt. Um sich deutlich gegen die neoliberale Politik der Vorgängerregierung zu stellen, könnte unter Umständen feministische Forderungen hinten angestellt werden. Das könnte bedeuten, dass beispielsweise sozialen Maßnahmen vor feministischen Forderungen Priorität eingeräumt wird und letztere als vermeintlich weniger dringend in der Schublade verschwinden.

Diese für die feministische Bewegung insgesamt typische Spannung ist eine der entscheidenden aktuellen Herausforderungen: wie kann der politischen Radikalität der feministischen Forderungen Ausdruck verliehen werden, wenn sie im Dialog mit einem sich erst im Aufbau befindenden Hegemonieprojekt stehen, das sozialer Inklusion vor sogenannter Identitätspolitik den Vorrang gibt?

Zu Zeiten der aktuellen Wirtschaftskrise steht die feministische Bewegung vor großen Herausforderungen und so könnten beispielsweise die geplanten Aktivitäten der feministischen Bewegung zum 8. März vom Sozialpakt der Regierung zur Eindämmung der Inflation in den Schatten gestellt werden. Der Feminismus muss diese falsche Dichotomie mittelfristig überwinden. Dazu muss er eine tiefgehende Analyse der gegenwärtigen patriarchalen Formen in der argentinischen Politik erstellen, kollektive Führungsweisen aufbauen, Antworten zur Überwindung einer Gesetzgebung suchen, die auf Bestrafung und Repression fokussiert, und die Organisation kollektiver Macht in antikapitalistischen und antipatriarchalen politischen Programmen entwerfen.

Die politische Linke steht vor der dringenden Notwendigkeit über den Aufbau einer feministischen institutionellen Organisation nachzudenken, die über die Quotendebatte hinausgeht und einen umfassenden Politikansatz von einer Depatriarchalisierung ihrer Strukturen her denkt.


Florencia Puente ist Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Buenos Aires.


 

Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.