Libanon
Die Sisyphos Arbeit der libanesischen Opposition
von Miriam Younes
13.7.2022
„Solange wir nicht in den Zustand von vor Oktober 2019 zurückfallen, ist die Revolution nicht gescheitert.“1
Seit dem 1. Juli 2022 gelten im Libanon neue Mobilfunkpreise: Die Tarife werden nun anstelle der Landeswährung in US-Dollar berechnet und müssen dementsprechend in US-Dollar bezahlt werden. Diese Anpassung ist nur ein weiterer Schritt einer „Dollarisierung“ des Landes. Damit werden Dienstleistungen und Waren des täglichen Lebens für viele Menschen im Libanon zunehmend unbezahlbar.
Die Erhöhung der Mobilfunkpreise erzeugte keine großen Reaktionen: weder gaben sich Politiker*innen oder die verantwortlichen Firmen große Mühe diesen Schritt zu erklären, noch kam es zu einem nennenswerten Widerstand seitens der Bevölkerung. Die Preiserhöhung wurde als ein weiterer Schritt in einer Serie von Verteuerungen und Verknappung von alltäglichen Gütern und Dienstleitungen im Libanon als selbstverständlich hingenommen. Denn das Land befindet sich seit fast drei Jahren in einer sich stetig verschärfenden politischen und wirtschaftlichen Krise.
Das Schweigen angesichts der steigenden Preise birgt insofern eine gewisse Ironie oder auch Tragik in sich, da es vor fast drei Jahren, am 17. Oktober 2019, ausgerechnet die Ankündigung einer neuen Steuer auf Internettelefonie-Apps der Auslöser für die sogenannte „Revolution des 17. Oktobers“ war - die größten Massenproteste in der neueren Geschichte Libanons. Die Proteste stellten damals nicht nur die politische Elite und die von ihnen praktizierten Politiken der letzten Jahrzehnte, sondern auch das politische System als Ganzes an den Pranger.
Die „Revolution des 17. Oktobers“ brachte damals das Land praktisch zum Erliegen. Sie war, wie es mir ein Aktivist in einem Interview beschrieb, die Bekundung der unglaublichen Wut, vor allem der jungen Generation, auf das ihr Leben bestimmende politische System und die politische Elite. Ab Februar 2020 nahmen die Massenproteste allmählich ab. Erfolgreich angewandte Strategien von Kooptation, Gewalt und Diffamierung schufen ein Klima der Angst und Unsicherheit. Die Corona-Pandemie gab der Protestbewegung den Rest.
Im März 2020 erklärte die damalige Regierung unter Premierminister Hassan Diab den Staatsbankrott und stellte einen Finanzsanierungsplan vorstellte, der, ohne die Interessen von Banken, Firmen und Oberschicht zu sehr anzurühren, halbherzige Reformvorhaben mit der Hoffnung auf internationale Geldgeber verband,
Nur noch ein Mal, aber dann mit voller Wucht meldeten sich die Menschen zurück. Am Abend des 4. Augusts 2020 explodierten am Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Innerhalb weniger Sekunden legte die Explosion Teile der Stadt in Schutt und Asche, verletzte Tausende und tötete Hunderte. Nachdem bekannt wurde, dass die Lagerung des hochexplosiven Stoffs führenden Politiker*innen des Landes seit Jahren bekannt war, kam es am 8. August 2020 wieder zu einer großen Demonstration in Beirut. Unter dem kollektiven Motto „Bereitet die Galgen vor“ traf eine wütende Menschenmasse auf die libanesische Armee und Polizei, die trotz der gerade stattgefundenen Katastrophe den Demonstrant*innen mit dem bisher größten Ausmaß an Gewalt entgegentraten.
„Der 8. August war der letzte Tage, an dem ich in Beirut protestierte. Ich war seitdem nicht mehr auf der Straße. (...) Es hat nicht funktioniert. Proteste werden eine unbarmherzige, machthungrige Elite nicht dazu zwingen, ihren Griff um das Land zu lockern.“1 So beschrieb die Menschenrechtsaktivistin Bissan Faqih im August 2021 ihre Gefühle „ein Jahr danach“.
Seither befindet sich das Land im freien politischen und wirtschaftlichen Fall. Essentielle Güter des alltäglichen Lebens, wie Benzin, Medikamente, Strom, Wasser oder Weizen sind entweder nicht mehr erhältlich oder werden dem USD-Preis angepasst und damit für den Großteil der Menschen nicht mehr bezahlbar. Öffentliche Dienstleistungen und Institutionen funktionieren, wenn überhaupt, nur noch sporadisch. Die Regierung setzte vor den Parlamentswahlen im Mai 2022 immer noch auf alte Rezepte: die Verabschiedung eines Haushalts und ein finanzieller und wirtschaftlicher Sanierungsplan, der sich vor allem auf eine Rettungsaktion des Internationalen Währungsfonds verlässt. Die IWF umgekehrt fordert vor jeglicher “Rettung” politische Reformen, die in der momentanen politischen Konstellation unrealistisch sind.
Inmitten dieses freien Falls hatten am 15. Mai Parlamentswahlen stattgefunden. Trotz des politischen Fatalismus, der herrschte, hatten sich nahezu in jedem Wahlkreis eine oder mehrere Listen zur Wahl gestellt, die sich als „oppositionell“, „säkular“, „unabhängig“ oder „revolutionär“ präsentierten und sich oft als politische Produkte der „Revolution des 17. Oktobers“ verstehen.
Viele der Kandidat*innen waren tatsächlich bei vielen sozialen Bewegungen der letzten Jahre federführend beteiligt und hatten sich vor oder nach 2019 als Partei oder „organisierte“ Bewegung formiert. Andere standen eher etablierten Parteien wie den Kata’eb nahe. Die Kata’eb ist eine politisch rechts stehende, christliche Partei, die eine führende Rolle im Bürgerkrieg spielte. Seit einigen Jahren repräsentiert sich die Partei als Opposition zum politischen System und nannte sich zu diesem Zwecke in „Kata’eb Partei – die sozialdemokratische Partei Libanons“ um. Die Koalition mit der Partei wird von vielen oppositionellen Parteien abgelehnt.Die Bevölkerung betrachtete die oppositionellen Listen mit Skepsis. Die realen Chancen dieser „Opposition“ wurden als sehr gering geschätzt und ihre politische Organisation als zu schwach. In den Augen vieler Libanes*innen waren ihre Programme und
Ideen nicht ernsthaft genug oder den Herausforderungen nicht gewachsen. Die Wähler*innen betrachteten die Teilnahme an den Wahlen als ein Zugeständnis an das bestehende politische System.
Der Wahlabend brachte für viele doch noch eine Überraschung. Entgegen aller Erwartungen schafften es acht bis 15 „Kandidat*innen der Veränderung“ ins Parlament – je nachdem, welche Maßstäbe man an die Begriffe Opposition und Veränderung anlegt. Für einen Moment schien die Revolution wieder in der Luft zu hängen. Die meisten Menschen freuten sich zumindest darüber, dass einige der prominentesten Repräsentant*innen von Korruption, Gewalt und Konfessionalismus ihren als sicher geglaubten Sitz verloren hatten.
Seither ist von der Begeisterung nicht viel übrig geblieben. Die üblichen Verdächtigen wurden in ihren Rollen als Parlamentssprecher und Vorsitzende von Ausschüssen oder Komitees bestätigt. Der Interimsinnenminister Bassam Mawlawi befahl den Sicherheitskräften per Dekret, gegen Veranstaltungen vorzugehen, die angeblich Homosexualität propagieren. Krebskranke Patient*innen bekommen ihre Medikamente nicht mehr und in den meisten Haushalten des Landes gibt es seit Wochen kein Wasser mehr. Da stellt sich die Frage, was die neuen „Parlamentsabgeordneten der Veränderung“ in ihrer Funktion tatsächlich verändern können.
Die Frustration, die Rückschläge und die Grausamkeit des derzeitigen libanesischen Alltags weisen nicht nur auf die Tiefe der momentanen wirtschaftlichen und politischen Krise hin, sondern auch auf das, wogegen die Menschen bereits im Oktober 2019 auf die Straße gingen: ein dysfunktionales politisches und wirtschaftliches System, das sein Haltbarkeitsdatum schon lange überschritten hat. Für viele Aktivist*innen und oppositionelle Gruppen wird wieder einmal deutlich, dass das System von innen heraus nicht reformiert werden kann. Sondern genau das benötigt wird, was die Protestbewegung von 2019 nicht geschafft hat: den Sturz des Systems und eine Neuerfindung der libanesischen Politik und Wirtschaft. Die libanesische Opposition scheint heute wieder da angekommen zu sein, wo sie schon oft war – mit dem Stein der gewünschten Veränderung an der Spitze des Berges, bevor dieser wieder runterrollt.
1 Aus dem Interview mit einem politischen Aktivisten im Libanon, Mai 2021.
Miriam Younes ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf linken und sozialen Bewegungen im Libanon, Syrien und Irak. Sie ist als Deutsch-Libanesin in Freiburg in Breisgau geboren und lebt seit 2013 im Libanon.
Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.