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Belarus

Der Moment wird kommen

Ein Interview mit der belarussischen Antikriegs-Aktivistin Iryna Novikova*

Viktor Tolochko / IMAGO / SNA
Erst kürzlich übten die Kadetten der Belarussischen Militärakademie den Krieg.

18.2.2023


Es wird befürchtet, dass Belarus dem Krieg beitritt. Wird das Land eine Kriegspartei?

Offiziell beteiligt sich Belarus nicht direkt an diesem Krieg. Es erlaubt jedoch den Russ*innen ihre Truppen und ihre Waffen auf seinem Territorium zu stationieren. Die russischen Kampfflugzeuge starten von unserem Land. Von unserem Territorium aus feuern Russ*innen Raketen ab. Das ist, in meinen Augen, eine direkte Beteiligung unseres Landes im Krieg, obwohl im Augenblick unsere Truppen nicht in der Ukraine sind. Die ukrainische Regierung und Armee haben Belarus davor gewarnt, Soldaten in die Ukraine zu schicken und kündigten an, in einem solchen Fall erbitterten Widerstand zu leisten.

Was glauben Sie, wie der belarussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko darüber denkt? Ist er von Entscheidungen des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin abhängig? Kann er seine eigene Entscheidungen treffen?

Ich bin sicher, dass er nicht unabhängig ist. Wir sind von Putin abhängig. Dennoch hat Lukaschenko davor Angst, in diesen Krieg verwickelt zu werden. Führende Politiker*innen aus Europa haben ihn vor den Konsequenzen einer solchen Beteiligung gewarnt. Deswegen versucht er eine direkte Verwicklung in den Krieg zu vermeiden. Wie lange er diese Position vertreten kann, wissen wir nicht. Es ist zu befürchten, dass der Moment kommen wird, an dem Putin ihn so sehr unter Druck setzt, dass er unsere Truppen in die Ukraine schickt. Belarus bereitet sich seit November 2021 auf den Krieg.

Die Proteste nach der Wahl gegen das Lukaschenko-Regime haben aufgehört. Wie ist die innenpolitische Lage?

In Belarus ist es unmöglich, „Nein zum Krieg“ zu sagen. Es ist unmöglich zu sagen, „ich unterstütze die Ukraine“. Wer das sagt, wird sofort eingesperrt. Daher sagen die Menschen gar nichts mehr. Andererseits wollen weder Zivilisten noch die Militärs, die Mehrheit unseres Volkes, Teil dieses Krieges zu werden. Unsere Armee ist nicht auf einen Krieg vorbereitet. Die Generäle haben Lukaschenko gesagt, dass sie nicht in den Krieg ziehen können.

Hat der Krieg an der Unzufriedenheit der Bevölkerung beeinflusst?

In Belarus gibt es ausschließlich Staatsmedien. Viele Menschen verfolgen das Geschehen nur im belarussischen Fernsehen und haben kein Zugriff auf unabhängige Medien. Im Staatsfernsehen hören sie nur, dass Polen und Litauen einen Krieg gegen Belarus und Russland anfangen wollen. Es heißt, an der belarussischen Grenze seien viele Panzer und Kampfflugzeuge stationiert. Die Stimmung ist sehr betrübt. Die Menschen haben Angst vor einem NATO-Angriff gegen unser Land. Das mag lächerlich klingen, aber wie Millionen von Russ*innen Putin glauben, glauben viele Menschen in Belarus Lukaschenkos Worten. Andererseits gibt es auch belarussische Partisan*innen, die der Ukraine helfen. Sie sammeln Informationen über die Truppen und die Ausrüstung der Russ*innen in unserem Land.

Hat sich im Land irgendetwas geändert nach den Protesten?

Nein. Nach 2020 hat sich die Situation sogar verschlechtert. Viele Menschen haben das Land verlassen. Zurzeit haben wir keine unabhängige Medien in Belarus. Noch vor einem halben Jahr mussten wir unsere Zeitungen selbst drucken. Ich habe sie nachts eigenhändig in die Briefkästen geworfen. Ich allein habe wöchentlich 800-1000 Zeitungen verteilt. Dabei begegnete ich oft Polizist*innen und hatte große Angst. Irgendwann sagten unsere Genoss*innen, sie hätten Informationen erhalten, dass wir verhaftet werden würden. Deshalb haben wir das Land verlassen. Die Zeitung existiert nicht mehr. Aber wenn ich ehrlich bin, ist diese Arbeit notwendig. Denn etwa 25-30 Prozent der Menschen unterstützen Lukaschenko und das ist schlimm.

Worüber hat diese Zeitung berichtet?

Wir haben Informationen über die Lage der politischen Gefangenen, über die Lage im Land, über den Krieg in der Ukraine verbreitet. Aber im Moment geht das nicht. Mein Bruder wurde vier Mal verhaftet. Er musste zwar nicht lange ins Gefängnis, bekam aber hohe Geldstrafen. In solchen Fällen sammeln wir Geld und bezahlen die Strafen. Aber seine Frau wurde mit dieser Situation nicht fertig und fiel in eine sehr tiefe Depression. Sie ist nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Ich denke, viele Familien sehr gelitten haben. Die Ehefrauen von politischen Gefangenen geben unabhängigen Medien in Polen oder in Litauen Interviews. Neulich wurde eine von ihnen nur wegen eines solchen Interviews verhaftet und sitzt jetzt im Gefängnis.

Sie sagten uns im Vorgespräch, auch E-Mails schicken oder telefonieren sei gefährlich. Was wären denn die Konsequenzen?

Ich weiß es nicht. Das ganze Internet- und Telefonsystem läuft über staatliche Servern. Ich denke, die KGB überwacht diese Server. Natürlich gibt es Millionen von E-Mails und Telefonanrufe. Ich kann nicht mit Sicherheit wissen, ob gerade meine E-Mails gelesen oder meine Anrufe abgehört werden. Dennoch nutzen wir lieber WhatsApp oder Viber. Auch sie sind nicht sicher. Trotzdem sind sie bessere Alternativen als das Telefon. Ich nutze jeden Tag unabhängige Webseiten im Ausland, um zu erfahren, was in unserem Land los ist.

Gibt es viele Menschen, die wegen des Krieges das Land verlassen?

Ich habe den Eindruck, dass die meisten nach den Protesten in den Jahren 2020 oder 2021 ins Ausland gegangen sind. Auch heute verlassen einige das Land aber in kleineren Zahlen. Dafür kommen sehr viele Menschen aus Russland zu uns, um der Mobilisierung zu entkommen. Denn es gibt zwischen Russland und Belarus keine Grenzkontrollen. Doch jetzt soll Lukaschenko erlassen haben, dass diese Russ*innen unser Land nicht verlassen dürfen.

Sind die Russ*innen in Belarus in Sicherheit?

Nein. Sie können verhaftet werden. Sehr viele Russ*innen wurden in Belarus bereits verhaftet und nach Russland zurückgeschickt.


Der Name der belarussischen Antikriegs-Aktivistin wurde aus Sicherheitsgründen von der Redaktion geändert.


 

Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.