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Vahram Soghomonyan

Ein industrieller Abnutzungskrieg gegen die Selbstbestimmung von Berg-Karabach

Alexander Ryumin / / imago images / ITAR-TASS

Am 11. Januar fand in Moskau ein trilaterales Treffen zwischen den Staatsoberhäuptern Russlands, Armeniens und Aserbaidschans statt. Im Ergebnis der Bemühungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin wurde eine trilaterale Erklärung über die Eröffnung von Transportkommunikationen unterzeichnet. Die angespannte Atmosphäre des Treffens zeigte jedoch, dass die Parteien mit der gegenwärtigen Situation alles andere als zufrieden sind.

Russland möchte, noch vor der Amtseinführung des neugewählten US-Präsidenten Joe Biden und ohne die USA und Frankreich, beide Co-Vorsitzende der OSZE-Minsk-Gruppe am Prozess  beteiligen und Erfolge bei der Öffnung der Eisenbahnverbindungen im Südkaukasus vorweisen. Darüber hinaus geht es dem Hauptvermittler Russland darum, die Bemühungen der Türkei im Südkaukasus Einfluss zu gewinnen, eindämmen. Die Türkei hingegen ist bemüht, auch durch Werbung für die eigenen Waffentechnologien, ihre Präsenz in Aserbaidschan zu stärken.

Während Putin und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew während des Treffens den Karabach-Konflikt als gelöst bezeichneten, betonte der armenische Premier Nikol Paschinjan ausdrücklich, dass die Statusfrage der Republik Arzach noch nicht geklärt sei.

Außerdem konnte der Streit über die Rückführung von Kriegsgefangenen, wie es im November mit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan vereinbart wurde, auch bei diesem Treffen nicht beigelegt werden. Aserbaidschan bezeichnete vor einigen Tagen die armenischen Kriegsgefangenen als Terroristen und weigert sich die Vereinbarung umzusetzen. Gemäß Schätzungen befinden sich noch über 100 armenische Soldaten in Kriegsgefangenschaft in Baku.

Trotz Waffenstillstand ist das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien enorm. Die Kriegsverbrechen, Misshandlungen von Soldaten und Enthauptungen von Zivilisten, hinterließen ein Trauma. Durch Druck und um die vollständige Ausrottung des Volkes von Berg-Karabach zu verhindern, sah sich Armenien gezwungen am 9. November 2020 eine trilaterale Erklärung über den Waffenstillstand zu unterzeichnen. Damit verpflichteten sich die Parteien in ihren derzeitigen Stellungen in Berg-Karabach zu bleiben, alle Gefangenen und die sterblichen Überreste der gefallenen Soldaten auszutauschen, sowie die Transportwege zu öffnen und die Rückkehr von Flüchtlingen zu ermöglichen.

Noch am selben Tag begann Russland mit der Stationierung von ca. 2000 Soldaten der Friedenstruppe in Berg-Karabach. Die armenischen Truppen wurden von umliegenden Regionen abgezogen. In Zukunft wird der fünf Kilometer breite Latschin-Korridor unter russischer Kontrolle Armenien mit Berg-Karabach verbinden.

Kampf gegen Drohnen

Aserbaidschan hatte am 27. September 2020 einen Angriffskrieg gestartet. Die Verteidigungsarmee von Berg-Karabach leistete 44 Tage lang Widerstand. Doch der von türkischen Streitkräften und syrischen Söldnern unterstützte industrielle Abnutzungskrieg Bakus mit präzedenzloser Dichte des Drohneneinsatzes verwandelte Berg-Karabach in ein Katastrophengebiet. Bereits in den ersten 30 Minuten des Krieges soll ein erheblicher Teil der Luftabwehr von Berg-Karabach durch Drohnen zerstört worden sein. Die Absicht hinter den präzisen aserbaidschanischen Luftschlägen gegen militärische Ziele und Siedlungen war offensichtlich die Region für rückkehrende Flüchtlinge unbewohnbar zu machen. Der Krieg verursachte mehrere Tausend Tote auf beiden Seiten.

Während nun Aserbaidschan seinen militärischen Sieg feiert, herrscht in Armenien und Berg-Karabach tiefe Enttäuschung. Der Krieg war schließlich das Ergebnis eines russisch-türkischen Deals, das große Ähnlichkeiten mit dem im Jahr 1921 geschlossenen Lenin-Atatürk-Pakt vorweist. Auch damals haben Russland und die Türkei bilateral Armeniens Grenzen mit erheblichen Gebietsverlusten für den letzteren bestimmt. Dank der vorgetäuschten Sympathien für den Sozialismus gelang es den Türken nicht nur Kars und Surmalu für sich, sondern auch das Gebiet Nachdschewan für Aserbaidschan zu beanspruchen. Auch vor hundert Jahren startete in der letzten Septemberwoche die damalige türkische Offensive im Westen und die aserbaidschanische Offensive im Osten. Dieser historische Vergleich ruft böse Erinnerungen bei Armeniern hervor.

Durch den Drohnenkrieg vom September 2020 wurde faktisch nur ein Teil der bisher im Rahmen der OSZE verhandelten Minsk-Lösung gewaltsam umgesetzt. Und zwar lediglich der Teil, der Aserbaidschan begünstigt. Im Kooperationsdreieck Russland-Türkei-Aserbaidschan hat Moskau den eigenen Bündnispartner Armenien zum Hauptverlierer des Konflikts gemacht. Berg-Karabachs Selbstbestimmungsrecht und seine Statusfrage wurden ignoriert.

Die armenische Seite erlitt zwar eine schwere Niederlage, verlor Kerngebiete des ehemaligen sowjetischen Autonomiegebietes Berg-Karabach (v.a. die Hadrut-Region), mehrere Tausend Menschen und die Kulturstadt Schuschi, aber Aserbaidschans Zukunftsaussichten sind auch nicht rosig. Denn die Präsenz türkischer und russischer Militärs stellt das Land vor neuen Herausforderungen.

Die Autokratie wird gefestigt

Der Konflikt hat, neben der militärischen, auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ilham Alijew fühlen sich in ihren autokratischen Ambitionen und ihrer Rhetorik gegen die demokratische Revolution 2018 in Armenien gestärkt. Während der Siegesparade in Baku forderten sie den Rücktritt der armenischen Regierung und verherrlichten die Organisatoren des Völkermordes an Armeniern im Jahr 1915. Der Autokrat Alijew zeigt sich keineswegs als großzügiger Sieger. Im Gegenteil. Er schürt weiter Hass gegen Armenier. Auch für Russland ist die Schwächung der reformorientierten armenischen Regierung ein guter Nebeneffekt.

Für die progressiven Kräfte in Europa und im Westen gilt es heute vor allem diesen Siegeszug der Autokraten aufzuhalten. Wer sich dazu berechtigt fühlt, mit Drohnen einen funktionierenden „de-facto“ Staat wegzubomben und die Bevölkerung aus dessen Hoheitsgebiet zu vertreiben, wie zuvor im kurdischen Afrin geschehen, der nährt den Boden für mehr Expansionismus und aggressive Kriegsrhetorik. Die Unterdrückung demokratischer Ansätze im Kaukasus dürfte bald auch woanders Konsequenzen haben.

Friedensperspektiven und Solidarität

Um Frieden zu schließen, müssen die Konfliktparteien miteinander sprechen. Unter heutigen Umständen ist das nicht möglich. Nichtsdestotrotz starteten während des Krieges kritische Intellektuelle und linke Gruppen mehrere Friedensinitiativen und Unterschriftenaktionen. Autoritäre Kräfte hingegen bekämpften solche Initiativen. Schlimmer noch, in Aserbaidschan unterstützten große Teile der liberalen Zivilgesellschaft den Angriffskrieg. Der Krieg sorgt also für die Konsolidierung des autokratischen Regimes und die anti-armenische Hetze wird zu diesem Zweck als ideologische Grundlage eingesetzt.

Einige Vertreter der Linken in Armenien unterstützten den Friedensdiskurs aktiv und stellten die martialische Narrative in Frage, an der jahrelang festgehalten wurde. Denn diese diente lediglich den oligarchischen Strukturen in Armenien. Es ist noch unklar zu welchen Schlussfolgerungen der Schock des Krieges führen wird. Aktuell befinden sich reformorientierte Kräfte im Kreuzfeuer zwischen den alten und korrupten Eliten, die die Kriegsniederlage für ihre eigene Rückkehr zur Macht nutzen wollen und den externen Sicherheitsbedrohungen und einem entsprechenden „Medienterror„ aus mehreren Richtungen.

Als bewaffnete Auseinandersetzungen im Gange waren, hofften armenische Linke vergeblich auf bedeutende internationale Solidarität zur Einstellung der Kriegshandlungen. Sie wurden allein gelassen. Es wurden zwar Resolutionen verabschiedet und Anfragen über Waffenlieferungen gestartet, doch die wirtschaftlichen Interessen überwogen, sei es bei Technologielieferung für türkische Drohnen oder den aserbaidschanischen Gaslieferungen nach Europa.

Ein friedliches Zusammenleben, so wie es sich die internationale Kommune von Baku im Jahr 1917 vorgestellt hat, ist schwer umzusetzen. Damals, nach Einmarsch der türkischen Armee, wurde der Anführer dieser berühmten Kommune Stepan Shahumyan, nach dem die Hauptstadt von Berg-Karabach Stepanakert benannt ist, zusammen mit 25 Gleichgesinnten erschossen. Unmöglich ist es aber nicht. Voraussetzungen dafür sind Solidarität der demokratischen Kräfte, gegenseitiges Vertrauen und ein gerechter Frieden.


Dr. Vahram Soghomonyan, geboren 1977, ist Mitglied des Redaktionsrates des Political Discourse Journal (diskurs.am). Er studierte Germanistik an der Staatlichen Universität Jerewan. Von 2002 bis 2006 arbeitete er in der Forschungsgruppe Europäische Integration am Institut für Politikwissenschaft in der Philipps-Universität Marburg. Seit 2010 war Vahram Soghomonyan in mehreren Bürgerinitiativen beteiligt (u.a. Maschtoz-Park-Bewegung und Bürgerinitiative für Bildung).


 

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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.