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1. Untersuchungsausschuss Afghanistan

Drei Jahre nach dem Doha-Abkommen - eine Bilanz

Deutschlands Zögern Ortskräfte aus Afghanistan zu evakuieren, kostete Einigen das Leben

Lcpl. Nicholas Guevara/U.S. Mari / imago images/ZUMA Wire

1. März 2023


Die Auswirkungen des „Abkommens zur Befriedung Afghanistans zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als die Taliban bekannt ist, und den Vereinigten Staaten von Amerika“ kurz „Doha-Abkommen“ vom 29. Februar 2020.

Das Abkommen

Mit der Amtsübernahme Donald Trumps in den USA im Januar 2017, der auf einen schnellen Abzug amerikanischer Soldat:innen drängte, änderte sich auch die gesamte Afghanistan-Politik der Vereinigten Staaten. Im Sommer 2018 nahmen die USA schließlich, unter Leitung ihres Sondergesandten Zalmay Khalilzad, direkte Gespräche mit der politischen Führungsriege der Taliban in Doha (Katar) auf. Die Verhandlungen zogen sich bis in das Jahr 2020 und schließlich unterzeichneten beide Seiten am 29. Februar 2020 das „Abkommen zur Befriedung Afghanistans zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan, das von den Vereinigten Staaten nicht als Staat anerkannt wird und als die Taliban bekannt ist, und den Vereinigten Staaten von Amerika“ kurz „Doha-Abkommen“.

Das Abkommen, welches der Befriedung Afghanistans dienen sollte, regelte im Wesentlichen drei größere Bereiche. Die Taliban verpflichteten sich, Aktivitäten terroristischer Gruppierungen, wie Al-Qaida, auf afghanischem Territorium zu unterbinden, sodass von diesen in Zukunft keine Bedrohung mehr für die USA ausgehen. Zudem sollten Angriffe auf die von den USA geführte militärische Koalition gänzlich eingestellt werden. Die USA garantierten im Gegenzug einen Zeitplan zum Abzug der eigenen Streitkräfte, sowie der militärischen Kräfte aller internationalen Partner, aus Afghanistan einzuhalten. So sollte es zunächst zu einer sukzessiven Reduzierung und schließlich zu einem vollständigen Abzug bis spätestens zum 1. Mai 2021 kommen.

Zuletzt enthielt das Abkommen eine Absichtserklärung zur Aufnahme eines innerafghanischen Dialogs zwischen den Taliban und anderen „afghanischen Seiten“. Letztgenannter Punkt war zumindest vage gehalten. Dies und die Tatsache, dass die offiziell international anerkannte afghanische Regierung weder an den Verhandlungen in Doha beteiligt, noch im Abkommen explizit erwähnt wurde, sollte die weiteren Entwicklungen nach dem 29. Februar 2020 wesentlich mitbestimmen.

Die Umsetzung 

Die USA hielten sich zunächst an ihre Zusagen und reduzierten ihre militärischen Kräfte in Afghanistan bis zum Februar 2021. Auch die Taliban stellten sämtliche Angriffe auf die internationalen Streitkräfte ein. Zugleich intensivierten sie ihre Angriffe auf Sicherheitskräfte der afghanischen Regierung, da diese vom Abkommen ausgenommen waren. Unterdessen versuchten die übrigen NATO-Partner, darunter Deutschland, die USA noch zu einer Abkehr der endgültigen Abzugsentscheidung zu drängen.

Dies und die Übernahme der Amtsgeschäfte durch den neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden sollte dazu führen, dass die Biden-Regierung am 14. April 2021 die Frist für den Gesamtabzug bis zum 11. September verlängerte. Der 14. April war somit auch der Startschuss für die Einleitung des endgültigen Redeployment, also der Rückverlegung deutscher Soldat:innen und militärischen Geräts aus Afghanistan, die zum 1. Juli 2021 abgeschlossen sein sollte.

Der nunmehr immer näher rückende endgültige Abzugstermin beflügelte die Taliban innerhalb kurzer Zeit viele ländliche Distrikte sowie Distriktstädte einzunehmen. Infolgedessen fielen auch Provinzen, wie Badakhschan, welche bis dato eher als Regierungshochburg betrachtet wurde, unter die Kontrolle der Taliban. Während sich auf Seiten der afghanischen Armee weiter Auflösungserscheinungen zeigten, eroberten die Taliban Anfang August 2021 zunächst Kunduz, kurz darauf Herat, Kandahar und auch Mazar-e Scharif, wo sich mit Camp Marmal noch bis Ende Juni 2021 das größte deutsche Militärlager befunden hatte.

Am 15. August flüchtete der afghanische Präsident Aschraf Ghani aus dem Land. Die Taliban übernahmen auch in der Hauptstadt Kabul die Kontrolle. In den Folgewochen starteten mehrere Länder Evakuierungsmissionen, um Menschen, die sich vor den Taliban auf der Flucht befanden, außer Landes zu bringen. So verließen bis zum 31.08.2021 über 100.000 Menschen über den Flughafen Kabul Afghanistan. Mehrere Zehntausend konnten, aufgrund des Chaos im Land und rund um den Flughafen, nicht gerettet werden. 

Zum Scheitern verurteilt?

Laut Einschätzungen von Expert:innen erfüllt das Doha-Abkommen keine der objektiv vorgegebenen Standards, die an ein internationales Abkommen gestellt werden. Mangels klarer Kriterienist es viel zu vage und wie ein Experte in der Sachverständigenanhörung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Bundestages in der Sachverständigenanhörung vom 22. September 2022 es bezeichnete: „wachsweich“. Die Taliban, die schon während der Verhandlungen Gewalt in Form von Angriffen auf Regierungstruppen einsetzten, um den Druck zu erhöhen, konnten den Abschluss des Abkommens als großen Erfolg verbuchen. Garantierte das Abkommen doch einen Abzug der internationalen Truppen zu einem festgelegten Zeitpunkt. Ohne die Unterstützung der internationalen Streitkräfte war jedoch für alle militärischen Expert:innen vorhersehbar, dass die afghanischen Sicherheitskräfte, auch nach 20 Jahren Training und Unterstützung durch die NATO, den Taliban militärisch kaum etwas entgegenzusetzen hatten.

Politisch negativ wirkte sich zudem aus, dass durch die - von den Taliban so gewünschte - Nichtbeteiligung der gewählten afghanischen Regierung an den Verhandlungen deren Legitimität und Autorität in Frage gestellt wurde. Es gab keinerlei vertrauensbildende Maßnahmen oder sonstige erfolgversprechende Initiativen, die zu einem innerafghanischen Frieden hätten führen können. So war auch die eigentlich für spätestens den 10. März 2020 angedachte Aufnahme von innerafghanischen Friedensgesprächen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Auf Seiten der Taliban bestand schlicht keine Notwendigkeit zur zügigen Aufnahme von Verhandlungen. Sie bereiteten sich strategisch auf eine militärische Machtübernahme vor. Auf Seiten der Regierung bestand zugleich große Verunsicherung aufgrund eines Machtkampfes zwischen dem am 28. September 2019 wiedergewählten Präsidenten Aschraf Ghani und seinem Herausforderer Abdullah Abdullah, die bis in das Frühjahr 2020 andauern sollte. Maßnahmen, wie die auf Druck der USA von Seiten der Regierung vorzunehmende Freilassung von 5000 Talibankämpfern, schwächten Kabuls Position zusätzlich.

Verantwortung Deutschlands

Mag der Abzug der Koalitionsstreitkräfte und der deutschen Soldat:innen aus Afghanistan aus Sicht der Bundeswehr letzten Endes nach Plan verlaufen sein, so zeigten spätestens die Szenen vom Flughafen Kabul zwischen dem 16. und 26. August 2021, wo verzweifelte Menschen auf ihrer Flucht vor den Taliban versuchten, in rettende Flugzeuge zu gelangen, in welches Chaos und für viele Menschen lebensgefährliche Situation das Land durch die vom Doha-Abkommen vorgezeichneten Entscheidungen gestürzt wurde.

Der Abzug kam erst Jahre zu spät und wurde dann überhastet, schlecht geplant und ohne Rücksicht auf Konsequenzen für die Bevölkerung durchgeführt. Die Menschen in Afghanistan wurden von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Glaubte man im deutschen Verteidigungsministerium zunächst noch bis April 2021 daran, die USA von der Entscheidung eines Komplettabzugs abbringen zu können, war man anschließend ausschließlich damit beschäftigt eigenes Personal, sowie Gerätschaften wieder nach Deutschland zu bringen.

Zu keinem Zeitpunkt gab es konkrete Planungen Ortskräfte, die jahrelang für Deutschland gearbeitet hatten und sich nun aufgrund dessen in großer Gefahr befanden, koordiniert und systematisch zu evakuieren. So scheiterte sogar ein für Ende Juni kurzfristig geplanter Charterflug für Ortskräfte der Bundeswehr aus Masar-e Scharif am Widerstand des Auswärtigen Amtes, der deutschen Botschaft in Kabul, sowie den Empfehlungen hochrangiger Generäle. Im Auswärtigen Amt und der deutschen Botschaft, aber auch bei der deutschen Entwicklungshilfeorganisation GIZ herrschte zudem die überwiegende Auffassung, Ortskräfte seien erst gar nicht zu evakuieren. Stattdessen sollten die lokalen Beschäftigten vor Ort bleiben, um deutsche Entwicklungshilfe, auch unter einer möglicherweise heraufziehenden Talibanherrschaft, fortzusetzen. Dass eine solche Prioritätensetzung am Ende Menschenleben gefährdet, wurde hingegen nicht berücksichtigt oder billigend in Kauf genommen.

Als man schließlich im August 2021 im Auswärtigen Amt händeringend versuchte über eine sogenannte Menschenrechtsliste, von den Taliban besonders bedrohte Personen doch zu evakuieren, war es für koordinierte Aktionen längst zu spät. Die Folgen zeigen sich bis heute. So sind bereits eine Vielzahl von Menschen, obwohl sie eine Aufnahmezusage aus Deutschland hatten oder sich im Aufnahmeverfahren befunden haben, ums Leben gekommen. Ein halbes Jahr nach der Machtübernahme durch die Taliban wurden mehr als die Hälfte derer, die von der Bundesregierung als gefährdet angesehen wurden, noch nicht in Sicherheit gebracht. Die Vorstellung, dass Afghaninnen und Afghanen, die auf den Schutz der Bundesrepublik vertraut haben, den Taliban zum Opfer gefallen sind, weil trotz eindrücklicher Warnungen zu spät mit den Evakuierungen begonnen und an zu bürokratischen Verfahren festgehalten wurde, macht weiterhin fassungslos.

Die Situation unter der Herrschaft der Taliban ist bedrückend. Es gibt massive Einschränkungen in allen Bereichen. Insbesondere Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und die Rechte von Frauen sind massiv bedroht. Immer wieder wird von Menschenrechtsverletzungen berichtet. Zugleich hat die Bundesregierung am 31.01.2023 durch Außenministerin Annalena Baerbock verkünden lassen, dass sie humanitäre Hilfen für Afghanistan teilweise aussetzen will. Dass Sanktionen aber das Leid der afghanischen Bevölkerung erhöhen, zeigte schon die im Winter 2021/2022 auch aufgrund von Sanktionen gegen die Taliban einsetzende Hungersnot. 


Clara Bünger ist Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE und Mitglied des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan des Bundestages.


 

Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.