Die Lehre aus einem „Überfall“
Am 26. Januar versammelten sich kurdische Bauern vor einem türkischen Militärstützpunkt und protestierten gegen die zivilen Opfer eines türkischen Luftangriffs gegen die PKK. Später gerieten sie mit den dort stationierten Soldaten aneinander. Ein Demonstrant starb, 15 wurden verletzt. Die Zelte der türkischen Soldaten, Fahrzeuge und zwei Panzer wurden in Brand gesetzt. Daraufhin erklärte Erdoğan, man gestehe denjenigen, die „im In- und Ausland unsere Ruhe und unseren Wohlstand stören“ nicht das Recht auf Leben zu. Dieser Satz ist Ausdruck der Interventionslust, mit der man früher den Nahen Osten neu zu ordnen gedachte, jetzt aber nur noch alles vernichten will, was der Türkei nicht ins Konzept passt.
Abschrecken, bestrafen, vernichten... Erdoğans Satz entspricht dem Wesen der Republikanischen Allianz*, die jede Möglichkeit einer friedlichen Lösung zunichte macht und den Konflikt schürt.
„Unser Recht auf Ruhe ist uns heilig!“ sagt Erdoğan. Doch nur diejenigen können es beanspruchen, die auch das Recht auf Ruhe anderer als heilig anerkennen. Hat die Türkei ab 2011 zehntausende libysche, saudische, jemenitische, jordanische, ägyptische, algerische, marokkanische, kaukasische und ost-turkestanische Dschihadisten an den türkischen Grenzen etwa deshalb wie VIPs behandelt, weil sie gekommen waren, um die Ruhe in Syrien zu bewahren?
Neue Strategie im „Kampf gegen den Terror“
Die türkische Regierung beharrt darauf, ihren „Kampf gegen den Terror“ derart auszuweiten, dass sie die daraus resultierenden Probleme nicht mehr bewältigen kann. Dieser Kampf soll stattfinden in einer Region, die sich in Syrien von Afrin bis östlich des Euphrats und in Irak vom Qandilgebirge bis nach Schengal und Mahmur im Zentrum des Landes erstreckt. Sollte Teheran zustimmen, wäre sogar ein Stück iranischen Bodens Teil dieser Region.
Laut Quellen im irakischen Kurdistan starben bei den jüngsten Luftangriffen während dieser Kämpfe zwanzig Zivilisten. Deshalb sammelten sich die Bauern aus Schiladse vor dem türkischen Militärstützpunkt in Sire. Denn den Angriffen auf das Dorf Geli Reschawa fielen am 22. Januar vier und am 25. Januar zwei Zivilisten zum Opfer. In einer Erklärung des türkischen Verteidigungsministeriums hieß es dazu lakonisch: „21 seperatistische Terroristen wurden kampfunfähig gemacht!“
Nach den Vorkommnissen vor dem Stützpunkt sprach Erdoğan: „Heute haben sie im Nordirak einen Fehler gemacht. Unbemannte Drohnen und Flugzeuge stiegen auf. Die Menge wurde auseinandergejagt.“ Und dann gab er die Sätze von sich, die eingangs erwähnt wurden. In einer Verlautbarung des türkischen Verteidigungsministeriums hieß es, „von der Terrororganisation PKK provoziert“ habe es einen Anschlag gegeben. Auch Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu machte die PKK verantwortlich: „Sie fangen an die Bevölkerung aufzuhetzen. Wir wissen, dass die PKK dahintersteckt.“ Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan äußerte sich beschwichtigend: „Hinter den Vorfällen stecken Kräfte, die Chaos erzeugen wollen. Die Provokateure werden nach Untersuchung des Vorfalls bestraft.“
Wenn man nicht möchte, dass ein Problem verstanden und darüber diskutiert wird, erklärt man es zum Ergebnis einer Provokation. In einer Atmosphäre, da selbst die Aussage, „Zivilisten sind Opfer“ als Terrorpropaganda gilt, will man mit solchen Erklärungen jedes selbstständige Denken unterbinden.
Der Vorfall offenbart die Probleme, die mit der neuen Strategie des „Kampfes gegen den Terror“ verbunden sind. Sie sieht vorrangig den Einsatz von unbemannten Drohnen vor. Man prahlt damit, wie genau sie treffen. Das tun sie nicht.
Die Wut richtet sich nicht nur gegen die Türkei
Die Demonstranten vor dem Militärstützpunkt verlasen eine Erklärung und stellten drei Forderungen:
- -Schluss mit den türkischen Luftangriffen
- Abzug der türkischen Soldaten aus der Region und Achtung der Souveränität des Landes
- Abzug der PKK.
Die Wut über die zivilen Opfer richtet sich nicht nur gegen die Türkei, sondern auch gegen die PKK. Zweifellos hat die PKK Einfluss auf die Bauern im Umkreis ihrer Lager. Aber auch diese Menschen sind nicht bereit, zu Leidtragenden dieses Konflikts zu werden.
Historisch gesehen, leben in diesem Gebiet kurdische Stämme, die der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) feindlich gesinnt sind. Die Menschen, die vor dem Militärstützpunkt protestierten, gehören dem Rekani-Stamm an. Es sind Kurden, die zu Saddams Zeiten Bagdad unterstützten, weil er gegen die DPK vorging.
Nach 1990, als die DPK gemeinsam mit der Türkei gegen die PKK kämpfte, neigten sie der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zu. Als die DPK im Prozess des Aufbaus der kurdischen Autonomieregion wieder erstarkte, schlossen sich einige von ihnen der DPK an und emigrierten nach Mossul.
Die PKK kann sich auf DPK-kontrolliertem Gebiet nicht frei bewegen. Doch in den PUK-kontrollierten Gebieten ist sie breiter vernetzt. Das hat sich auch nicht wesentlich verändert, nachdem die PUK wegen der Entführung zweier türkischer Geheimdienstmitarbeiter im August 2017 gegen die PKK vorging.
Außerdem erstarken zur Zeit die Islamisten in diesem wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebiet. Die geschilderten Vorgänge sollten also niemanden verwundern.
Abgesehen davon wächst wegen der türkischen Stützpunkte und der Militäroperationen der Türkei südlich ihrer Grenzen der Unmut sowohl unter den kurdischen als auch den irakischen Führungskräften. Die DPK nimmt am Kampf gegen die PKK bisher nur deshalb teil, weil sie gute Beziehungen zur Türkei haben möchte. Doch sie steht vor neuen Herausforderungen in ihrem Gebiet. Daher ist sie nicht mehr willens, einen Stellvertreterkrieg zu führen, obwohl ihre Antipathie gegenüber der PKK weiterbesteht.
Außerhalb Ankaras wird der Vorfall vor dem Stützpunkt mit anderen Augen gesehen. Ein Journalist aus der Region schildert ihn aus seiner Sicht so:
„Diese Menschen haben den Stützpunkt nicht überfallen. Die Familien haben eine Erklärung verlesen, um gegen die zivilen Opfer zu protestieren. Erst nachdem auf die Menge geschossen wurde, gerieten die Dinge außer Kontrolle. Dass die DPK nicht rechtzeitig intervenierte, wirft Fragen auf. Vielleicht braucht sie einen Vorwand, um ihre Politik zu ändern und eine Kampagne mit dem Ziel zu starten, die PKK und die türkischen Soldaten zum Abzug zu bewegen.“
Auch Bagdad reagiert auf die türkische Präsenz in Irak zunehmend empfindlicher. Inzwischen ist der Abzug der türkischen Truppen eines der Hauptthemen in den diplomatischen Verhandlungen zwischen der Türkei und dem Irak und das größte Hindernis für die Normalisierung der Beziehungen.
Das Problem ist größer als Ankara glauben will
Ankara besteht auf einer militärischen Lösung der Kurdenfrage. „Wir werden ihre Höhlen erobern!“ Unter dieser Losung will der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Veränderungen in Rojava und in der Region rückgängig machen. Aber welche Höhlen?
Das Problem ist inzwischen größer als das 160 Kilometer lange Qandilgebirge. Es betrifft ganze Städte. Solange die kurdische Frage nicht gelöst wird, breitet sich die PKK in jede Richtung aus. Die Türkei kämpft nicht nur vor Ort, sondern bei jeder diplomatischen Verhandlung gegen die Sackgassen, die aus der Kurdenfrage resultieren. Diese schlichte Wahrheit erfordert ein realistisches Herangehen. Das Problem ist nicht auf einem Ort beschränkt. Deshalb kann es auch nicht mit unbemannten Drohnen, neuen Stützpunkten oder Pufferzonen eingegrenzt und isoliert werden. Darum ist eine politische Lösung für die kurdische Frage unerlässlich.
*Das in Ankara faktisch regierende Bündnis von Erdogans islamistischer Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), in Deutschland besser bekannt unter dem Namen „Graue Wölfe“. (Anm. des Übersetzers)
Fehim Taştekin ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Nahost und Kolumnist bei der Online-Zeitung „Gazete Duvar“.
Dieser Text wurde ins Deutsche übersetzt, redigiert und gekürzt. Das türkische Original können Sie bei Gazete Duvar lesen.
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