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Ellen Engelstad

Bahnbrechender Erfolg für Norwegens radikale Linke

Bei den norwegischen Parlamentswahlen am 13. September 2021, hat das skandinavische Land einen deutlichen Linksruck vollzogen. Wer die Regierung bilden wird, ist bislang unklar. Wahrscheinlich ist eine Mehrheitskoalition aus der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Ap), der Zentrumspartei (Sp) und der Sozialistischen Linkspartei (SV) bzw. eine Minderheitsregierung.

Die Arbeiterpartei festigte ihre Position als stärkste Kraft Norwegens, obgleich ihr Stimmenanteil um 1 Prozent sank. Die Zentrumspartei gewann mit ihrer Wahlkampagne gegen Zentralisierung die meisten Stimmen hinzu. Die Sozialistische Linkspartei erhöhte ihren Stimmenanteil um 1,6 Prozent. Ihr Wahlergebnis blieb zwar hinter den Prognosen, ist aber positiv, weil die SV dasselbe politische Spektrum wie die Rote Partei und dieGrünen (MDG) anspricht.

Das wichtigste Ergebnis ist jedoch der bahnbrechende Erfolg der linksradikalen Roten Partei (R), die als erste neu gegründete Partei in der norwegischen Geschichte über die Vier-Prozent-Hürde kommt.

Wettlauf um die Hürde

Norwegen wurde acht Jahre von rechten Koalitionen regiert. Zu den großen rechten Parteien gehören die Konservative Partei (H) und die einwanderungsfeindliche rechtsextreme Fortschrittspartei (FrP). Sie erhielten Rückenwind von den kleineren Christdemokraten (KrF) und der Liberalen Partei (V). Die Grünen, die bisher keine klare Position bezogen, erklärten den Chef der Arbeiterpartei als Premierminister zu bevorzugen, da die konservative Regierung wenig zur Senkung der Treibhausgasemissionen oder zum Umweltschutz in Norwegen beigetragen habe.

Die politische Linke besteht somit aus fünf Parteien: drei große Parteien (Ap, Sp und SV), die die neue Regierung bilden dürften, und zwei kleine Parteien (R und MDG).

Ländlicher Aufruhr

Dass Norwegen einen Linksruck vollziehen würde, war vorauszusehen. Denn die konservative Regierung war aufgrund von Steuersenkungen für Reiche sowie Kürzungen der Sozialausgaben und im öffentlichen Sektor zunehmend in der Wählergunst gesunken. Im Rahmen einer umfangreichen Reform wurde zudem die Anzahl der Landkreise und der Kommunen reduziert, was für viel Empörung unter der Landbevölkerung sorgte.

Eines der wichtigsten Wahlkampfthemen war der Konflikt zwischen Ballungszentren und dem Rest des Landes. Die rund fünf Millionen Norweger*innen leben seit jeher über das große Land und zahlreiche kleine Kommunen verstreut. Den Trend zu Zentralisierung und Abwanderung in größere Städte beäugen viele kritisch. Aus Sorge um Krankenhäuser und Polizeistationen in norwegischen Landkreisen ist eine soziale Bewegung entstanden: die „bunad-Guerilla“. Diese Gruppe von Frauen in traditioneller Volkstracht (bunad) protestiert gegen die Schließung von lokalen Geburtskliniken. Auch in der Hauptstadt Oslo wurde gegen die von den Konservativen geplante Schließung des größten städtischen Krankenhauses demonstriert. Zwar soll das Krankenhaus durch eine neue medizinische Einrichtung ersetzt werden, viele befürchten aber, dass sie den Bedarf der Bevölkerung in der Hauptstadt nicht wird decken können.

Von den Unruhen in den ländlichen Landesteilen profitierte vor allem die Zentrumspartei. In den Umfragen lag die Partei Anfang 2021 noch auf einer Stufe mit der Arbeiterpartei bei rund 20 Prozent. Nach dem Zulauf zahlreicher unzufriedener Wähler*innen aus dem rechten Lager und der Mitte begann die Zentrumspartei jedoch, sich vom linken Spektrum zu distanzieren. Sie sprach sich gegen eine Koalition mit der Sozialistische Linke aus und sagte den Grünen in Bezug auf wichtige Klimamaßnahmen den Kampf an. Doch viele Anhänger*innen der Partei wünschten einen echten Wandel. Am Ende kam die Zentrumspartei vor allem wegen eines ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen, der Entwicklung ländlicher Gebiete, auf 13,5 Prozent – eine Vision, die auch von der Arbeiterpartei und dem breiteren linken Flügel geteilt wird.

Bewusstsein für den Klimawandel?

Ein weiteres wichtiges Thema im Wahlkampf war der Klimawandel. Denn Norwegen gehört zu den größten Öl- und Gasexporteuren weltweit. Es herrscht zunehmend Einigkeit darüber, dass die als „norwegisches Ölmärchen“ bezeichnete Ära bald vorüber sein wird. Darüber, ob sich der Übergang durch einen geplanten landesweiten Stopp der Ölförderung oder durch einen raschen Nachfragerückgang an den Märkten vollziehen wird, wird gestritten. Sozialistische Linkedie Roten, die Grünen und die Liberale Partei werden alle als „Klimaparteien“ wahrgenommen.

Das knappe Scheitern der Grünen an der Wahlhürde stieß indessen eine Debatte darüber an, ob der Klimawandel den norwegischen Wählenden möglicherweise weniger wichtig ist, als die Medien dies glauben lassen. Kritischen Stimmen zufolge seien Norweger*innen nicht bereit, die Klimarealität und einen Verzicht auf Komfort zu akzeptieren. Andere wiederum erklären, die Radikalität und Kompromisslosigkeit der Grünen sowie ihre Selbstgefälligkeit schrecke die Wählenden ab.

Die Sozialistische Linke und die Roten plädierten im Wahlkampf für grüne Industrien und eine gerechte Energiewende, bei der die größten Verschmutzer*innen den höchsten Preis zahlen sollten.

Die rechtsextreme Fortschrittspartei hingegen warb für die norwegische Ölförderung und schürte die Angst vor Arbeitslosigkeit. Vergebens: am Ende fiel die Fortschrittspartei auf 11,6 Prozent der Stimmen zurück.

Zwei radikale linke Parteien – oder nur eine?

In den vergangenen Jahren wurde oft über eine Wahlkooperation oder auch eine Fusion zwischen der SV und der Roten gesprochen. Gegründet wurde die Rote Partei 2007, als die Kommunistische Arbeiterpartei (AKP) und die Rote Wahlallianz (RV) sich annäherten. Die RV vertrat in der Öffentlichkeit ursprünglich die Meinungen der AKP, war jedoch seit 1991 als unabhängige Partei aktiv.

Zu dieser Zeit war die Sozialistische Linke schon seit zwei Jahren die kleine Koalitionspartnerin der Arbeiterpartei und der Zentrumspartei. Viele Linke waren jedoch enttäuscht, da die Regierung neoliberale Reformen vorantrieb und Steuererhöhungen für die Reichen ablehnte. Außerdem gab diese Regierung die Barentssee für Öl- und Gasbohrungen frei und beteiligte sich am NATO-Krieg in Libyen. Nach acht Jahren bestraften die Wählenden die SV, die in 2013 mit 4,1 Prozent die Hürde gerade noch hatte überwinden können. Daraufhin vollzog sie mit ihrem neuen Vorsitzenden Audun Lysbakken einen deutlichen Linksruck und baute allmählich das Vertrauen der Wählenden wieder auf. Das bedeutete jedoch auch, dass die beiden radikal linken Parteien im Parlament häufiger gleich abstimmten. Auch thematisch näherten sie sich einander an. Die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit wurde lauter.

Bei der letzten Wahl kam diese jedoch nicht zum Tragen, was vielleicht besser war. Denn obwohl eine solche Kooperation ein Signal für die Bereitschaft der radikallinken Parteien wäre, einen starken Linksblock zu schmieden, hätte sie auch einen Teil ihrer Wählerschaft abschrecken können. Denn die Parteien bedienen recht unterschiedliche Wählerschichten. Die RotePartei wird beispielsweise von einigen, vor allem älteren Wählenden, wegen ihrer kommunistischen Vergangenheit gemieden.

Ausschlaggebender ist jedoch die Tatsache, dass die SV vor allem von Frauen im öffentlichen Sektor gewählt wird, während die Roten mit ihrer langfristigen und auf Arbeit und Wirtschaft ausgerichteten Strategie unzufriedene Wählende von der Arbeiterpartei abwerben konnten. Die Sozialistische Linke will sich zudem an der Regierung beteiligen. Die RotePartei hingegen lehnt jede Regierungsverantwortung ab.

Es steht viel auf dem Spiel

Bei der Wahl in Norwegen haben sich die Wählenden eindeutig für einen Linksruck ausgesprochen: weg von Zentralisierung, Ungleichheit und Kürzungen bei Sozialleistungen, hin zu sozialen Reformen. Die Linken hoben besonders eine Reform hervor: die kostenlose zahnärztliche Versorgung, die derzeit nicht über das kostenlose öffentliche Gesundheitssystem gewährleistet wird. Außerdem gab es Forderungen nach landesweit neuer Infrastruktur, Steuererhöhungen für Reiche und staatliche Beihilfen für die Entwicklung neuer, grüner Industrien.

Zumindest im Vergleich zu ihrer neoliberalen Blütezeit vor 20 Jahren ist auch die Arbeiterpartei deutlich nach links gerückt. Offen bleibt aber, ob sie dem erheblichen Erwartungsdruck gerecht werden kann, unter dem sie nach achtjähriger konservativer Regierungszeit steht. Die Arbeiterpartei hat sich zur Erhöhung einiger Steuern und Abgaben bei gleichzeitiger Senkung anderer bereit erklärt, um die Steuereinnahmen auf aktuellem Niveau zu halten. Wie jedoch künftig  Sozialreformen und der Wohlfahrtsstaat finanziert werden sollen, ist unklar. Die Sozialistische Linke und die Roten fordern, dass diese von jenen mit den „breitesten Schultern“ finanziert werden.

Weiteren Grund zur Besorgnis gibt die Zentrumspartei, die zwar viele kluge Strategien für Beschäftigte und Landkreise vorbringt, aber auch eine beträchtliche Anzahl von rechtsgerichteten Mitgliedern hat. Ihre größte Herausforderung könnten Maßnahmen gegen den Klimawandel sein. Die Partei lehnt Abgaben auf Emissionen mit der Begründung ab, diese träfen Menschen in entlegenen ländlichen Gebieten, die auf ihre Autos angewiesen sind, unverhältnismäßig stark. Außerdem neigt die Zentrumspartei als traditionelle Partei der Landbesitzenden dazu, Umweltvorschriften für die Landnutzung abzulehnen und Raubsäugetiere wie Wölfe auszurotten zu wollen – Forderungen, die die Linke unter keinen Umständen bereit ist zu akzeptieren.

Alles in allem stellt die Wahl jedoch eine große Chance für die Linke dar, falls sie diese zu nutzen weiß. Anlass zu echter Hoffnung geben der Aufstieg der radikalen Linken zu einer derart starken politischen Kraft. Auch die Tatsache, dass die RotePartei über eine bedeutende Fraktion im Parlament verfügt, die bei einem Versagen der Regierung nur darauf wartet, verärgerte Wähler*innen für sich zu gewinnen. Die Erwartungen sind also hoch. Wenn es der Arbeiterpartei nicht gelingt, diese sich bietende Chance wahrzunehmen, wird sie womöglich einen hohen politischen Preis zahlen.


Ellen Engelstad (geboren 1985) ist eine norwegische Autorin und Herausgeberin. Sie kombiniert ihre Tätigkeit als Redakteurin beim Manifest-Verlag mit ihrer Arbeit als Beraterin bei der gleichnamigen Denkfabrik. Zu ihren Veröffentlichungen gehören die Bücher „Syriza. The Athens spring and the struggle for Europe’s soul“ (2016) und „Rosa Luxemburg. A biography“ (2019, gemeinsam verfasst mit Mímir Kristjánsson).


Dieser Artikel wurde redigiert und gekürzt. Das Original erschien zunächst am 17. September 2021 auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel.


 

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