Worüber Israelis NICHT sprechen
Ginge es bei Wahlkämpfen um konkrete politische Optionen, gäbe es bei den anstehenden Wahlen in Israel zwei zentrale Themen: der fortwährende Konflikt mit den Palästinenser*innen und die ungleiche Entwicklung der israelischen Wirtschaft, die für die anhaltend hohe Armut und die Ungleichheit im Land verantwortlich ist. Während letzteres Thema in der Debatte kaum vorkommt, ist der Palästinakonflikt gewissermaßen tatsächlich präsent – wenn auch eher als sprichwörtlicher Elefant im Raum.
In jedem Fall gilt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu keinen Ausweg aus der aktuellen israelisch-palästinensischen Sackgasse bietet. Er zieht es stattdessen vor, sich in seiner Rolle als „Mister Sicherheit“ zu suhlen, als einzigem Politiker, der weiß, wie mit den Palästinenser*innen umzugehen sei, der das Westjordanland befriedet hält und die Errichtung eines palästinensischen Staates verhindert.
Der Elefant im Raum manifestiert sich in der neu gegründeten, größten Oppositionspartei, Blau-Weiß. Diese wird nicht von einem, nicht von zwei, sondern von gleich drei früheren Stabschefs der israelischen Armee angeführt. Und alle drei versuchen mit allen Mitteln zu vermeiden, konkrete Hinweise auf einen Ausweg aus der Sackgasse zu liefern. Sie müssen es auch nicht, denn sie – bzw. ihre Fernsehbilder – verkörpern faktisch die langjährige israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen. Zudem böte jeder konkrete Plan Netanjahu die Chance, sie als „links“ zu brandmarken. Und Netanjahu ist ein Meister darin, alles „Linke“ als „Gefahr für Israel“ zu titulieren.
Entsprechend präsentieren sich die drei Generäle als Vertreter der „Mitte“ und folgen dabei doch den Prämissen der Rechten: kein palästinensischer Staat, keine Teilung Jerusalems. Und nicht nur das: Sie betonen zudem, dass sie bei einem Wahlsieg allen Parteien, die palästinensische Bürger*innen Israels vertreten, die Teilnahme an der Regierungskoalition verwehren würden – davon wären 13 der insgesamt 120 Abgeordneten in der aktuellen Knesset betroffen.
Das Märchen von der Start-Up-Nation
Das andere große Thema, das im Wahlkampf völlig außen vor bleibt, ist die ungleiche Entwicklung der israelischen Wirtschaft. Auch hier dient der ausbleibende Diskurs dazu, die an der Stelle grundlegende ideologische Übereinstimmung der betreffenden Parteien zu überdecken. Ihre Geschichte geht so: Wir sind eine „Start-Up-Nation“, der es gelang, ein Raumgefährt zu entwickeln, das sich im Moment auf dem Weg zum Mond befindet. Es gibt mehr als 300 ausländische IT-Forschungs- und -Entwicklungszentren und das Land verfügt über eine florierende, exportorientierte Waffenindustrie. Unerwähnt bleibt jedoch, dass dieselbe Nation beim OECD-Ranking zum Thema Ungleichheit stets einen der obersten Plätze einnimmt und eine der höchsten Armutsraten der westlichen Welt aufweist.
„Start-Up-Nation“ ist ohnehin ein irreführender Begriff, schließlich sind im Hightech-Industrie- und -Dienstleistungssektor gerade einmal 10 Prozent aller Arbeitsplätze zu finden, die zudem hauptsächlich in und um Tel Aviv herum angesiedelt sind. Nur hochqualifizierte Arbeitskräfte finden dort eine Anstellung – und gehören damit klar zu den Besserverdienenden.
Die Mehrheit der Israelis ist weder Teil der „Start-Up-Nation“ noch der medial und diskursiv vorgestellten „Mitte“ der Gesellschaft, weshalb diese Menschen im „Wahldiskurs“ größtenteils nicht vorkommen. Ebenfalls außen vor bleiben die palästinensischen Bürger*innen Israels – etwa 20 Prozent der Bevölkerung, die nie Nutznießer*innen wirtschaftlicher Entwicklungsprojekte waren. Sie wählen zumeist arabische Parteien – die von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen bleiben. Die ultra-orthodoxen Jüd*innen, etwa 10 Prozent der Bevölkerung, die größtenteils nicht auf dem Arbeitsmarkt vertreten sind und für ultra-orthodoxe Parteien stimmen, bleiben ebenfalls unberücksichtigt. Auch viele Mizrachim, die in Randgebieten leben, wo die Wirtschaft zumeist immer noch auf traditionellen Betrieben basiert, bleiben ebenfalls außer vor. Als Protest gegen die mittlerweile fast völlig inaktive Arbeitspartei, die bei ihrer Ankunft aus den arabischen Nachbarländern regierte, wählten sie drei Generationen lang den Likud – und machten dabei einen Prozess der Proletarisierung und der Verdrängung in die Peripherie durch.
Die wirtschaftliche Entwicklung ist ungleich verteilt, weil die Investitionen in die „Start-Up-Nation“ im Zentrum des Landes gehen und nicht in die Peripherie im Norden und Süden, wo hauptsächlich Araber*innen (im Norden) und Mizrachim (im Süden) leben. Ungleich verteilt auch, weil die seit Mitte der 1980er Jahre von neoliberalen Doktrinen getriebene israelische Regierung sich nicht der Herausforderung zu stellen vermag, tatsächlich Investitionen in die Entwicklung des Landes zu tätigen. Im Gegenteil setzte sie im Zuge der zweiten palästinensischen Intifada (2001–2003) – und lange vor der globalen Finanzkrise von 2008 –eine Austeritätspolitik um, die mit einem kleinen Etat, einem geringen Staatsdefizit, einer mäßigen Neuverschuldung und begrenzten Sozialausgaben einherging. Die Folge: Die Armutsrate schoss praktisch über Nacht in die Höhe.
Austerität als Ausgleich
Und hier schließt sich der Kreis zum Palästinakonflikt: Israels selbstauferlegte Austeritätspolitik gründete zum Teil auf den hohen Kosten der Besatzung. Beispielhaft mag hier darauf verwiesen sein, dass die zweite Intifada die größte Wirtschaftskrise in der israelischen Geschichte auslöste. Die häufig gewaltsamen Auseinandersetzungen bedrohen das Bild von Israel als finanzpolitisch stabile Wirtschaft – ein Bild, das essenziell ist für die Aufrechterhaltung der selbsternannten „Start-Up-Nation“, und, was noch wichtiger ist, für das internationale Kreditrating Israels. Die Austeritätsmaßnahmen zielten also auf die Bewahrung dieses Bildes finanzpolitischer Stabilität im Kontext politisch-militärischer Instabilität ab.
Jegliche Lösung für die wirtschaftliche Ungleichheit würde allerdings ein starkes Engagement von Seiten der Regierung erfordern; ein starkes Engagement von Seiten der Regierung würde wiederum größere Staatsausgaben bedeuten; größere Staatsausgaben würden jedoch entweder eine politische Einigung mit den Palästinenser*innen erfordern, um den Militärhaushalt senken zu können, oder aber höhere Steuereinnahmen, die nur von der Henne stammen können, die die goldenen Hightech-Eier legt, sprich, von den Besserverdienenden. Diese Profiteur*innen von Netanjahus Politik der niedrigen Steuern scheinen übrigens mit der Stimmabgabe für Blau-Weiß zu liebäugeln. Für beide Seiten, sowohl für Netanjahu als auch für die drei Generäle, ist Steuererhöhung jedoch gleichbedeutend mit „links“.
Somit haben wir es nicht nur mit einer, sondern mit gleich zwei Sackgassen zu tun.
Dr. Shlomo Swirski ist Akademischer Leiter des Adva Center, Tel Aviv (http://www.rosalux.org.il/partner/adva-de/)
Übersetzt von: Sebastian Landsberger – lingua•trans•fair
Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.