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Ivesa Lübben

Wem gehört der Nil?

Fadel Dawod / imago images / NurPhoto

Seit die die letzte Verhandlungsrunde zwischen Äthiopien, Ägypten und Sudan über die Modalitäten der Befüllung des Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD) in April gescheitert sind, wird der Ton zwischen Äthiopien und Ägypten schärfer. Der Konflikt schwelt seit einem Jahrzehnt. Für beide Länder geht es nur vordergründig um technische Details der Befüllung, sondern um Grundfragen der Nutzung, Kontrolle und Hegemonie über die Wasserressourcen des Nilbeckens.

Einerserits hängt die ägyptische Wasserversorgung fast ausschließlich von Wasserquellen auf äthiopischem Hoheitsgebiet ab. Die saisonal und von Jahr zu Jahr stark schwankenden Wasserstände des Blauen Nils und des Atbara, die abwächselnd für Dürren und Hungerkatastrophen oder für Überschwemmungen sorgen, sind ein weiteres Problem.

Andererseits kann Äthiopien bislang das Wasser des Blauen Nils kaum nutzen, obwohl 85% des Nilwassers in Äthiopien entspringen. Das soll sich mit dem GERD ändern. Einmal fertiggestellt wird der GERD das größte Wasserkraftwerk Afrikas und das siebtgrößte der Welt sein. Äthiopiens Ziel ist die Elektrifizierung des Landes, indem bislang nur 40% der Haushalte an das Stromnetzt angeschlossen sind. Außerdem hofft Addis Abeba, Energie in die Nachbarstaaten Sudan, Eritrea, Somalien und nach Kenia zu exportieren und sieht sich in der zukünftigen Rolle eines regionalen Energie-Hub.

Der GERD ist jedoch auch ein Projekt zur Konstruktion einer gemeinsamen äthiopischen Identität in dem ethnisch zersplitterten Land. Um zu verhindern, dass internationale Finanzgeber die Finanzierung des Mammutprojektes mit politischen Bedingungen verknüpfen, wurde der Bau allein aus Eigenmitteln bezahlt. Die Zustimmung der Bevölkerung zu dem Projekt ist groß.

Ägypten fürchtet Kontrollverlust

Das Projekt löst Ängste in Ägypten aus. Denn GERD könnte die Hydrohegemonie Ägyptens untergraben, die das Land seit dem Beginn des 19. Jh. für sich beansprucht. Kairo befürchtet auch, setzt sich Äthiopien durch, dass andere Anrainerstaaten ebenfalls eine Neuverteilung der Nilwasserquoten fordern könnten. Dass Äthiopien mit seinem hohen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, zu einer konkurrierenden Regionalmacht im östlichen Afrika zu werden droht, beflügelt die ägyptischen Ängste. Es beruft sich auf seine historischen, natürlichen und legitimen Rechte auf das Nilwasser und versucht stets die Kontrolle über die Nilquellen zu erlangen .

Obwohl Ägypten schon jetzt mehr Nilwasser verbraucht als ihm vertraglich zustehen, weisen ägyptische Experten darauf hin, dass Wasser aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums und den Auswirkungen des Klimawandels beängstigend knapp wird.

Andere Länder in der Region weisen ägyptische Ansprüche zurück. Aus ihrer Sicht, ist die ägyptische Kontrolle des Nils ein Erbe des Kolonialismus.

Die UN-Gewässer-Konvention

Bei der Überwindung dieses Konflikts ist das internationale Recht keine große Hilfe. Im Mittelpunkt der seit 2014 gültigen UN-Gewässer-Konvention stehen zwei vage Grundprinzipien: Eine faire, ausgewogene und vernünftige Nutzung des Wassers durch die Anliegerstaaten und die Verpflichtung, anderen Flussanrainern durch Eingriffe in den Flusslauf keinen „erheblichen Schaden“ zuzuführen. Meinungsverschiedenheiten sollen die Parteien durch die Schlichtung einer dritten Partei lösen oder den Fall dem Internationalen Gerichtshof vorlegen.

Kein Anrainer Nils hat das Abkommen unterzeichnet. Ägypten befürchtet, dass das Prinzip einer „ausgewogenen Nutzung“ zur Neuverhandlung der Wasserquoten führen könnte. Äthiopien will verhindern, dass Ägypten am Wassermanagement am Oberlauf des Blauen Nils mitredet und den Fall mit offenem Ausgang vor den internationalen Gerichtshof bringt, dessen Entscheidung dann völkerrechtlich bindend wäre.

Regionale Initiativen

1999 wurde die Nile Basin Initiative (NBI) gegründet, zu der alle Nilanrainer angehören, dessen Ziele eine Kooperation beim Management des Nilwassers, die Errichtung von Frühwarnsystemen gegen Naturkatastrophen, effizientere Ausnutzung knapper Wasserressourcen, die Entwicklung von Wasserreservoires sowie von Hydroenergie und der Ausbau eines grenzüberschreitenden Stromnetzes sind. Auch eine engere Kooperation bei der Armutsbekämpfung, der Ernährungssicherheit, der landwirtschaftlichen Entwicklung, dem Ausbau des regionalen Handels und der Bekämpfung negativer Folgen des Klimawandels ist vorgesehen.

In 2010 unterzeichneten sechs der Mitgliedsländer der NBI – Uganda, Äthiopien, Ruanda, Tansania, Kenia und Burundi – zusätzlich den Rahmenvertrag zur Kooperation (CFA), der sich im Wesentlichen auf die Prinzipien der UN-Gewässer-Konvention stützt. Während den Verhandlungen konnte sich Ägypten mit seiner Bedingung nicht durchsetzen, die Vertragspartner andere Anrainerstaaten vorab über geplante Baumaßnahmen in Kenntnis zu setzen hätten. Aus Protest fror es daraufhin seine Mitgliedschaft in der NBI ein. Damit wurde die Spaltung der Nilanrainer in die Gruppe der „Quellländer“ und der Anrainer des Unterlaufes – Sudan und Ägypten – offensichtlich.

Umso überraschender war es, dass in 2015 Ägypten, Sudan und Äthiopien eine Prinzipienerklärung unterzeichneten, das an den Grundsätzen der UN-Konvention anknüpft. Demnach sollen die gemeinschaftlichen Wasserressourcen in angemessener und vernünftiger Weise genutzt werden. Äthiopien verpflichtet sich, Sudan und Ägypten keinen signifikanten Schaden zuzufügen oder sonst sie zu entschädigen.

Die Erklärung ist ein Zeichen dafür, dass der ideologisch aufgeladene Diskurs einem gewissen Grad an Pragmatismus den Weg frei gemacht hat, auch wenn die grundsätzliche Position des Sisi-Regimes in Ägypten sich nicht änderte. Vielleicht deshalb, weil Kairo international nicht einmal bei ihren engen Verbündeten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien Unterstützung findet. Sie haben aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse an einer Konfrontation mit Äthiopien. Auch die USA und Russland lassen Ägypten in dieser Frage allein.

Trotzdem bleibt das Misstrauen weiter bestehen. Bis heute sind alle Versuche gescheitert, eine Einigung über die Dauer der Befüllung und dem Grad der Verbindlichkeit der Vereinbarungen zu erreichen.

Keine Gefahr für Ägypten und Sudan

Internationale Wasserexperten betonen, dass der GERD langfristig keine Auswirkung auf die nach Sudan und Ägypten fließende Wassermenge hat. Denn der GERD diene zur Stromerzeugung und die Turbinen können nur durch abfließendes Wasser betrieben werden.

Außerdem kündigte Äthiopien an, dass es in der zweiten Füllphase 15 Mrd. m3 stauen will. Auch wenn dadurch sich der Wasserzufluss in den Nassersee um etwa ein Viertel verringern würde, ist aufgrund der aktuell gestauten Wassermenge die Wasserversorgung Ägyptens nicht gefährdet. Im Gegenteil, starker Monsunregen im Jahr 2020 führte im Sudan zu katastrophalen Überschwemmungen. Lediglich länger ausbleibende Regenfälle könnten zu einer Verknappung des Wasserzuflusses führen.

Äthiopien hat seinerseits Flexibilität bei der Befüllung versprochen und sich bereit erklärt, auf einer Jahr-für-Jahr-Basis und unter Berücksichtigung der Umwelt- und Wetterprognosen über die Details zu verhandeln, lehnt es jedoch ab, auf mehrjährige Verpflichtungen festgelegt zu sein.

Die Zwischenposition des Sudan

Dritte Partei in den Verhandlungen ist der Sudan. Seine größte Sorge sind mögliche Baumängel. Ein hypothetischer Dammbruch würde eine Überschwemmung apokalyptischen Ausmaßes für den Sudan bedeuten.

Der GERD hat jedoch auch Vorteile für den Sudan. Er könnte die saisonal sehr schwankende Wasserzufuhr verstetigen und die Verschlickung des sudanesischen Roseires Damms, ebenfalls am Blauen Nil, verhindern. Dadurch würde die ganzjährige Bewässerung in den fruchtbaren Gebieten des blauen Nils ausgedehnt werden.

Innenpolitische Faktoren beeinflussen die Haltung Sudans ebenfalls. Die Militärs, die 2019 nach einem Putsch gezwungen waren, mit der Opposition eine Übergangsregierung zu bilden, genießen eine enge militärische Kooperation mit Kairo, die sie gegenüber der Zivilgesellschaft stärkt.

Parallel dazu verschlechterten sich die Beziehungen zu Äthiopien. Seit Ende 2020 kam es zu wiederholten Zusammenstößen zwischen äthiopischen und sudanesischen Einheiten. Außerdem verursachte der Konflikt in Tigray einen gewaltigen Imageschaden Äthiopiens bei der sudanesischen Zivilgesellschaft, die sich bis dahin eher als Verbündeter Äthiopiens denn des ägyptischen Militärregimes sah.

Die neue ägyptische Afrika-Offensive

Trotz der Kooperation mit dem Sudan und der deklamatorischen Unterstützung durch die Arabische Liga fühlt sich Ägypten in seinem Konflikt mit Äthiopien diplomatisch allein gelassen.

Der UN-Sicherheitsrat hat deutlich gemacht, dass er die Afrikanische Union für den geeignetsten Moderator hält. Die Weltbank finanziert zwar nicht den GERD direkt, hat aber für das äthiopische Elektrifizierungsprogramm 375 Mio. US-Dollar zur Verfügung gestellt. Die meisten Länder des sub-saharischen Afrikas haben Verständnis für die äthiopische Positionen, da auch sie die aktuelle Lage als eine Folge des britischen Kolonialismus ansehen.

Durch die Auseinandersetzung um den GERD ist der politischen Führung in Kairo deutlich geworden, dass gute Beziehungen zu den südlichen Nachbarstaaten für das Land von existenzieller Bedeutung sind. Deswegen startete das Sisi-Regime eine diplomatische und sicherheitspolitische Offensive, mit dem Ziel, Äthiopien strategisch einzukreisen und unterzeichnete Ägypten im Frühjahr 2021 mit Südsudan, Burundi und Uganda ein Abkommen über militärische und Sicherheitskooperation. Auch in den Bereichen Infrastruktur, Landwirtschaft und Wasserbewirtschaftung strebt Ägypten die Kooperation mit den Ländern des Nilbeckens an.

Unabhängig welchen Einfluss der GERD auf den Wasserzufluss nach Ägypten haben wird, wurde er in Kairo zum Katalysator für längst überfällige Reformen des Wassermanagements.

So soll bis 2037 der Wasserverbrauch optimiert, die Wasserqualität verbessert und neue Wasserressourcen erschlossen werden. Dazu gehören die Säuberung und Begradigung der Bewässerungskanäle, der Bau neuer Pumpstationen und von Entsalzungsanlagen. Die ägyptischen Behörden bemühen sich, den Wasserverbrauch der Landwirtschaft, die über 80 % der Wasserreserven verschlingt, zu reduzieren.

Die Maßnahmen zur Mechanisierung der Landwirtschaft drohen jedoch die soziale Spaltung auf dem Land zwischen Kleinbauern und finanzstarken Investoren und Landwirtschaftsholdings zu verschärfen. Denn moderne Bewässerungstechnologie erfordert hohe Investitionskosten, was die ägyptische Kleinbauern nicht aufbringen können

Konfliktszenarien und eine linke Friedenspolitik

Innenpolitisch sind sowohl der ägyptische Präsident Abdelfattah al-Sisi als auch der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed zur Geisel des eigenen Diskurses geworden. Wenn es um Rechte am Nilwasser geht, sind selbst die stärksten Kritiker des Sisi-Regimes zu einem Waffenstillstand bereit. Aber der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed kann die Befüllung des GERDs nicht aufschieben, der zum wichtigsten Symbol einer gemeinsamen äthiopischen Identität geworden ist.

Trotz bellizistischer Narrative geht jedoch hinter den Kulissen die Suche nach einer diplomatischen Formel weiter. Der kongolesische Präsident Félix Tshisekedi legte einen Kompromissvorschlag vor, der auch die Unterstützung der EU und der USA findet.

Ein Militärschlag, wie von einigen gefordert, wäre für Ägypten extrem risikoreich. Das Land rüstet jedoch auf und ist inzwischen weltweit der drittgrößte Importeur von Rüstungsgütern. Das ist ein weiterer Destabilisierungsfaktor in einer ohnehin krisenanfälligen Region.

Der Konflikt könnte schnell zu einem Flächenbrand führen, wird die Rüstungsspirale nicht durchbrochen und alternative Wege zur Konfliktbearbeitung aufgezeigt. Dabei müssen auch soziale Verzerrungen und Ungerechtigkeiten als latente Konfliktursachen adressiert werden.

Auch Die Linke könnte, um eine kritische, friedenspolitische regionale Öffentlichkeit zu schaffen, mit einem Dialog zwischen progressiven Akteuren aus den drei beteiligten Ländern auf der Grundlage der Anerkennung berechtigter Interessen und Ängste aller Beteiligter zur Konfliktlösung beitragen.


Ivesa Lübben ist die ehemalige Leiterin des Regionalbüros Nordafrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis


 

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