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Werner Ruf

Libyen – und Wahlen?

imago / Xinhua

Vor einem Jahr initiierte der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas eine Friedenskonferenz, um dem Bürgerkrieg in Libyen ein Ende zu setzen. Zahlreiche Medien feierten die Ergebnisse des Treffens als großen Erfolg. Doch kaum einer der Beschlüsse der Konferenz konnte im folgenden Jahr umgesetzt werden. Mit der Absage der damals in Berlin vereinbarten Wahl ist der Prozess nun endgültig gescheitert.

Libyen wurde 1911 von Italien kolonisiert. Während des italienischen Faschismus nahm dieser Kolonialismus völkermord-ähnliche Dimensionen an. 1951 wurde das Land unabhängig: Unter der Regie des britischen Imperialismus wurden die beiden ehemals italienischen Gebiete Tripolitanien und Cyrenaika mit dem ehemals französisch kolonisierten Fezzan im Süden zusammengeschlossen. Zum „König“ wurde Idriss I. gekrönt, damals Oberhaupt des Senussia-Ordens, dessen Einfluss von Senegal bis Indonesien reichte. Am 1. September 1969 putschte der junge Oberst Mu’ammar  el Ghadhafi. Er blieb der starke Mann bis zu seiner Ermordung am 20. Oktober 2011. Trotz gewaltiger Modernisierung und allgemein gestiegenen Einkommens aufgrund der Öleinkünfte in dem bevölkerungsarmen Land blieb Libyen im Wesentlichen eine Stammesgesellschaft.

Nein, Libyen ist kein zerfallener Staat, Libyen wurde von den Luftwaffen Frankreichs und Großbritannien und dann von der geballten Kraft der NATO als Staat zerstört.

Öl finanziert den Bürgerkrieg

Funktionsfähig blieb allerdings der Ölexport, über den in den vergangenen zehn Jahren kaum berichtet wurde. Die daraus erzielten Einnahmen gehen im Prinzip an die Zentralbank – doch wer ist das? Bekannt wurde, dass die Milizen um die Verlade-Anlagen des Öls kämpfen, diese zeitweise unter ihre Kontrolle bringen und die Einnahmen daraus sichern konnten. Auch, dass Stämme und ihre Milizen im Hinterland Förderanlagen und Teile von Pipelines besetzen und für deren Freigabe Lösegelder kassieren. So finanziert das schwarze Gold weiterhin den Bürgerkrieg.

In der inzwischen entwickelten Ökonomie der Gewalt des zerstörten Staates ist eine wichtige Einnahmequelle der Milizen in Tripolitanien die „libysche Küstenwache“: Sie wird von Banden betrieben, die oft mit den Schleusern liiert sind, die Flüchtende durch die Sahara ans Mittelmeer bringen. Finanziert hauptsächlich von Italien, aber auch von der EU, verkaufen diese Banden den Geflüchteten mehr oder weniger untaugliche Boote. Sie fangen sie dann auf hoher See wieder ein und verfrachten sie in private „Gefängnisse“, welche von Banden betrieben werden. Dort werden sie bestialisch gefoltert, zudem werden sie und ihre Familien in Afrika um Geld erpresst.Viele der Gefangenen werden auf Sklavenmärkten verkauft. Die „libysche Küstenwache“ aber ist zu einem wichtigen ökonomischen und politischen Akteur und Partner der EU geworden.

Zwei Machtzentren und Fremdeinmischung

Nach dem Sturz Ghadhafis war das Land in zwei (relative) Machtzentren zerfallen, die wiederum von verschiedenen, meist stammesgebundenen Milizen beherrscht werden. Da ist zum einen Tripolitanien mit der Hauptstadt Tripolis, das von verschiedenen, meist der islamistischen Muslim-Bruderschaft nahestehenden und untereinander oft weitgehend uneinigen Milizen kontrolliert wird. Zum anderen das frei gewählte Parlament in Tobruk, das islamistischen Tendenzen feindlich gegenübersteht. Sein militärischer Arm ist die Libysche Nationale Armee (LNA), die sich aber weitgehend verselbständigt hat und unter dem Kommando des früheren Oberst Ghaddhafis, Khalifa Haftar, für dessen Interessen kämpft. Die Zahl der Milizen und ihre – so vorhanden – unterschiedliche ideologische Ausrichtung, öffneten die Tür für verschiedenste ausländische Unterstützung und Einmischungen. So unterstützten die Vereinten Nationen und Deutschland etwa den von den UN eingesetzten Ministerpräsidenten Fayiz as-Sarradsch, dann seinen jetzigen, gleichfalls von den UN ausgesuchten Nachfolger Abdulhamid Dhbeiba.  Sie sollten die islamistischen Milizen in Tripolitanien unter Kontrolle bringen. Stattdessen kontrollierten die Milizen die politischen Figuren.

Libyen wurde so auch zum Einflussgebiet der Mittelmächte im Nahen Osten: Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen den konsequent laizistischen „Marschall“ Haftar, demgegenüber stehen Katar und die Türkei hinter den islamistischen Milizen im Westen, die großenteils mit den Muslim-Brüdern verbandelt sind. Die Zahl ausländischer Kämpfer im Lande wird auf ca. 20.000 geschätzt, darunter etwa 4.000 bis 5.000 teils reguläre türkische Truppen. Den Rest schöpft die Türkei aus der Provinz Idlib in Syrien, wohin nach ihrer Niederlage das Großteil der dschihadistischen Kämpfer, darunter die Freischärler des IS verfrachtet worden waren. Es ist den protürkischen Verbänden und ihrem massiven Einsatz von Drohnen zu verdanken, dass Haftar seinen Angriff auf Tripolitanien vor einem halben Jahr abbrechen und sich nach Osten zurückziehen musste. Auch die EU ist sich in ihrer Haltung nicht einig: So zählt Frankreich – im Gegensatz zu den meisten übrigen EU-Staaten – zu den Unterstützern Haftars.

Berliner Friedensprozess gescheitert

Dieser Eskalation des Konflikts war am 18. Dezember 2020 eine Konferenz in Berlin vorangegangen, die mit Blick auf abzuhaltende Wahlen den Abzug der ausländischen Kämpfer und einen Gewaltverzicht im Lande zum Ziel hatte. Die Entwicklung selbst bewirkte das Gegenteil. Dennoch wurde, vor allem unter Regie der UN, eine Regierung unter dem Überganspremier Dhbeiba eingesetzt, deren Hauptaufgabe die Vorbereitung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen waren, obwohl noch keine gültige Verfassung für das Land vorlag. Im Gegenzug für seine Ernennung musste Dhbeiba versprechen, dass er für die Wahlen nicht kandidieren würde. Diese wurden auf den 24. Dezember 2021 festgelegt. Für die Präsidentschaft bewarben sich 89 Personen, darunter Dhbeiba. Weitere bekannte Figuren waren der selbsternannte „Marschall“ Haftar und Seif al Islam Ghaddafi, Sohn des langjährigen Revolutionsführers Seif al Islam genießt in Deutschland eine gewisse Bekanntheit und Beliebtheit, weil es ihm als damaligem Vorsitzenden der Ghaddhafi-Stiftung im Jahr 2000 gelang, gegen horrendes Lösegeld eine Gruppe von Deutschen Touristen zu befreien, die von islamistischen Freischärlern auf der philippinischen Insel Jolo entführt worden waren. Damals flog Außenminister Joschka Fischer nach Tripolis, um sich artig für die Befreiung zu bedanken.

Wer nun wirklich Aussichten auf den Wahlsieg gehabt hätte – einer dieser drei relativ bekannten Kandidaten oder einer der übrigen 86 Kandidaten -, ist im Nachhinein nicht zu sagen. Angesichts des Chaos und der mehr als prekären Sicherheitslage im Lande konnte noch nicht einmal ein Wahlkampf stattfinden. So wurden kurz vor dem anvisierten Termin die Wahlen abgesagt und zunächst auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das zerstörte Land selbst dürfte bis auf Weiteres in unregierbarem Chaos verbleiben, die ausländischen Militärpräsenzen womöglich zunehmen, zumal sich inzwischen Meldungen verdichten, dass auch das russische private Militär-Unternehmen Wagner-Gruppe in Libyen präsent ist ...

Mit der Absage und Verschiebung der Wahlen hat auch die „internationale Gemeinschaft“ im Grunde ihren Bankrott erklärt. Eine Rekonstruktion von Staatlichkeit in dem potenziell reichen Land von außen scheint nicht möglich. Dass eine mehr oder weniger charismatische Kraft von innen einen solchen Prozess in Gang setzen könnte, dürfte ebenso ausgeschlossen sein. Dies gilt ebenfalls für den militärischen Versuch einer Einigung. Versuche zur Rekonstruktion einer Staatlichkeit von außen dürften mindestens ebenso zum Scheitern verurteilt sein, da es nicht nur nicht gelungen ist, die intervenierenden Mächte zum Abzug ihrer Truppen oder der von ihnen angeheuerten Milizen und Kriegsführungsfirmen zu bewegen. Letztere haben vielmehr im Lande selbst eigene Klientele entwickelt, deren ökonomische und politische Fortexistenz sie im Gegenzug sichern. Was die „internationale Gemeinschaft“ vielleicht gelernt hat, ist, dass unter den von ihr geschaffenen Bedingungen die Durchführung von Wahlen nicht möglich ist. Dass jedoch Wahlen in einer Gesellschaft, deren prekäre Bande zerrissen und auf lange Zeit zerstört zu sein scheinen, nicht nur unmöglich, sondern auch kein Lösungsweg sind, wird sie wohl noch lernen müssen. Ein Schritt in diese Richtung könnte sein: Der konsequente Abzug aller ausländischen Gewaltakteure, der Aufbau einer zivilen, die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung sichernden Gesellschaft von innen heraus, die Etablierung von Recht und Rechtstaatlichkeit. Der Realitätsgehalt eines solchen Wunschmenüs muss dahingestellt bleiben.


Dr. phil. Werner Ruf ist Politologe, Friedensforscher und Mitglied des Gesprächskreises Frieden und Sicherheitspolitik de RLS. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sicherheitspolitik und die arabisch-islamische Welt.


 

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