Religion und Politik? Der Einfluss der Evangelikalen in Lateinamerika nimmt neue Ausmaße an
Laut einer Umfrage des Pew Research Center, die 2014 durchgeführt wurde, sank die Anzahl katholischer Gläubiger in der Region von über 90 Prozent in den 1960er Jahren auf heute 69 Prozent. Viele von ihnen sind – oft innerhalb einer Genration - zum Protestantismus konvertiert: Obwohl nur jede/r zehnte Lateinamerikaner*in evangelikal aufwuchs, gehört heute jede*r Fünfte*r den Evangelikalen an. Viele der Befragten geben als Gründe die direktere Verbindung mit Gott sowie die Assoziierung des Katholizismus mit der Kolonialvergangenheit an.
Evolution der Evangelikalen und neue politische Präsenz
Auch wenn sich noch keine explizit evangelikalen Parteien gegründet haben, ist die Orientierung vieler Politiker*innen an dieser neuen Öffentlichkeit in der Umwerbung von Wähler*innenstimmen offensichtlich: der Interimspräsident Brasiliens, Michel Temer, drehte ein Video mit dem evangelikalen Pastor Silas Malafaia, in dem dieser ihn segnet. Bereits im Jahr 2008 ernannte Michelle Bachelet als damalige Präsidentin Chiles den Día del Evangélico (31. Oktober) zum chilenischen Nationalfeiertag.
Die evangelikalen Kräfte drängen verstärkt in die Politik: Der guatemaltekische Staatschef Jimmy Morales, ehemaliger Fernseh-Comedian sowie entschiedener Gegner der Abtreibung, ist evangelikaler Christ. Der ehemalige Pastor Marcelo Crivella, der offen Homosexuelle und afrobrasilianische Religionen diffamiert, ist seit 2017 Bürgermeister von Rio de Janeiro. Im brasilianischen Kongress gibt es eine evangelikale Fraktion, der mehr als 70 Abgeordnete verschiedener Parteien angehören und die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, Abtreibung und die „Gender-Ideologie“ mobil macht.
Diese Einmischung in die Politik ist ein Charakteristikum der neupfingstkirchlichen Bewegung (Neopentecostalismus), die sich radikal von ihren Ursprüngen unterscheidet.
Die Schweden Daniel Berg und Gunnar Vingren hatten 1910 die Pfingstbewegung nach Pará in Brasilien gebracht und dort die ersten Gemeinden der Assembléia de Deus gegründet. Zu Beginn zeichnete sich die Bewegung durch eine Loslösung von gesellschaftlichen Machtstrukturen im Sinne einer Weltflucht (fuga mundi) aus.
In den 1960er Jahren führten die Gründung eigener Kongregationen durch Brasilianer*innen und steigende Mitgliederzahlen zu einer größeren Verbreitung der Bewegung in der Bevölkerung.
In den 1980er Jahren entwickelte sich die dritte Ausrichtung der Bewegung, der Neopentecostalismus. Dieser ist geprägt von einer entschiedenen Einmischung in die Öffentlichkeit und in die Medien (“Guerra Espiritual“). Seit dieser Zeit gibt es evangelikale Megakirchen wie die Assembleia de Deus oder die Igreja Universal do Reino de Deus, die mit unternehmensähnlichen Strategien geführt werden. Letztere verlangt von den Gläubigen die Abgabe des „Zehnten“, einem Zehntel des Einkommens. Ihr Vorsitzender Edir Macedo ist einer der reichsten Menschen Brasiliens.
Theologie des Wohlstands
Evangelikale wie Edir Macedo vertreten die Theologie des Wohlstands. Demnach können persönlicher Wohlstand und Erfolg als Gunst Gottes gedeutet werden. Diese Auffassung legitimiert wiederum die Bereicherung des Kirchenpersonals als Vertreter*innen Gottes.
In Brasilien sind um die evangelikale Glaubensgemeinschaft herum ganze Ökonomien entstanden: Der Modemarkt für evangelikale Kleidung, etwa die Marke Joyali, boomt. Es gibt ein eigens für evangelikale Gläubige eingerichtetes Facegloria, in dem der „Like“-Button durch ein „Amen“ Symbol ersetzt ist. Evangelikale besitzen eigene Verlage und erstellen Gospel-Hitlisten.
In São Paulo wurde 2014 der Tempel Salomão der Ingreja Universal errichtet, in dem 10.000 Gläubige Platz finden. Neben den Sakralräumen gibt es Bibelschulen, Radiostationen, einen Helikopterlandeplatz und private Appartements.
Das Wohlstandsversprechen ist besonders attraktiv für ärmere Gesellschaftsschichten, bei denen Evangelikale viel Zulauf finden. Die Evangelikalen dringen vor allem in den armen Vierteln und Favelas ein. Sie bieten einen engen, familienähnlichen Zusammenhalt und ein rigides Wertebild, das starke Rollenbilder vorschreibt, aber auch Alkoholismus und Ehebruch verbietet. Dies ist einer der Gründe, warum Frauen und auch Indigene in pfingstkirchlichen Gemeinden besonders aktiv sind. In von Drogenbanden dominierten Regionen Zentralamerikas ist der Übertritt zu den Evangelikalen oft der einzig akzeptierte Austritt aus den mafiösen Strukturen und der Kriminalität.
Gegen Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe
Heute ist nichts mehr von der Weltflucht der 1960er Jahre zu erkennen. In vielen Ländern gehen Evangelikale aktiv an die Öffentlichkeit und nutzen die Medien, um für ihre vermeintlich vergessenen Werte zu kämpfen: Als die feministische Soziologin Judith Butler im November vergangenen Jahres im Flughafen von São Paulo landete, um einer Konferenz beizuwohnen, wurde sie von einer Meute Evangelikaler und Anhänger*innen der ProFamilia Bewegung empfangen, die sie „Hexe“ nannten und mit Vorwürfen der „Gender-Ideologie“ zur Hölle schicken wollten.
Großen Aufruhr gab es auch in Chile um Pastor Soto. Dieser bekundete vor dem homosexuellen Moderator in El Interrumpor, einer bekannten chilenischen TV-Show offen seine Homophobie. Er las Stellen aus der Bibel vor und breitete eine mitgebrachte Regenbogenfahne unter seinen Füßen aus, um sich an dieser wie an einem Teppich seine Füße abzustreifen.
Politischer Einfluss in Lateinamerika
Der Einfluss der Evangelikalen lässt sich beispielhaft an den jüngsten politischen Entwicklungen in Brasilien und Kolumbien darstellen.
Nachdem die durch einen parlamentarischen Putsch abgesetzte Präsidentin Brasiliens Dilma Rousseff Gesetze gegen Homophobie eingeführt und die Pille danach bei Vergewaltigungsopfern erlaubt hatte, wurden diese Positionen von der Rechten gegen sie instrumentalisiert und ein Großteil der ihr vorerst wohl gesonnenen evangelikalen Wähler*innenschaft wandte sich von ihr ab.
Ihr Amtsenthebungsprozess 2017 wurde besonders von den Evangelikalen Eduardo Cunha und Marco Feliciano, der viele Genehmigungen für Radio und Fernsehstationen besitzt, vorangetrieben. Während des Prozesses stimmten mehrere Abgeordnete mit den Worten „für Gott“ im Parlament gegen Dilma ab. Dies verschleiert wirtschaftspolitische Interessen und machtpolitisches Kalkül hinter ihrer Entmachtung.
Auch bei der Volksabstimmung zum Friedensabkommen mit den FARC-Rebellen im Jahr 2016 in Kolumbien zeigte sich der mächtige Einfluss der Evangelikalen: Der vorherige Präsident Juan Manuel Santos hatte während seiner Amtszeit die Abtreibung entkriminalisiert und außerdem zwei homosexuelle Ministerinnen ins Amt berufen und sich so Gegner*innen unter den Evangelikalen geschaffen. Diese mobilisierten auch gegen das Friedensabkommen, das sie als von einer „Gender-Ideologie“ infiltriert darstellten, weil in diesem LGBT-Gruppen angesprochen wurden und genderspezifisch psychologische Hilfe für Opfer sexueller Gewalt vorgesehen war.
In ihrem Wertekonservatismus, dem heteronormativen Weltbild und der populistischen Hetze gegen die Übel der Globalisierung können durchaus Parallelen zwischen den Evangelikalen und der neuen Rechten in Europa gezogen werden. Die religiöse Ausprägung ist dabei jedoch ein regionales Phänomen, das Ähnlichkeiten eher noch in Subsahara-Afrika als in Europa findet. Die Gründe für den Erfolg sind dagegen ähnlich: Die Abwesenheit des Sozialstaats, Existenzängste und der Verlust von Rollenbildern und Identitäten bieten einen idealen Nährboden für radikale Strömungen und Heilsversprechen.
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