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Werner Birnstiel

„Langer Marsch“ in die „Neue Ära“

Die Demonstration der eigenen Erfolgsgeschichte zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019 ist vorüber, der Alltag längst wieder eingekehrt und mit dem 4. Plenum des 19. Zentralkomitees der KP Chinas nun Grundlegendes für das Erreichen des ersten der zwei „100 Jahre-Ziele“ beschlossen. Es geht darum, Wachstum und Stabilität zu generieren, Armut zu beseitigen, soziale Gerechtigkeit durchzusetzen und als Gesamtziel zunehmende soziale Sicherheit und einen „bescheidenen Wohlstand“ zu erreichen.

Die Demonstration der eigenen Erfolgsgeschichte zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019 ist vorüber, der Alltag längst wieder eingekehrt und mit dem 4. Plenum des 19. Zentralkomitees der KP Chinas vom 28. – 31.10.2019 nun Grundlegendes für das Erreichen des ersten der zwei „100 Jahre-Ziele“ beschlossen. Herausragend zunächst der 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) am 1. Juli 2021, langfristig der 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik am 1.Oktober 2049. Eine umfassende Zwischenbilanz wird im Jahr 2035 gezogen.

Auf diesem 4. Plenum des 19. ZK der KPCh ging es darum, den „Sozialismus chinesischer Prägung“ in der aktuellen Phase durch die „Modernisierung der staatlichen Regierungsstruktur und die Erhöhung der Regierungsfähigkeit“ aller Ebenen voranzutreiben.

Herangereift waren die Schwerpunkte dieser ZK-Plenartagung seit 2013 und wurden im Oktober 2015 im Vorfeld des laufenden 13. Fünfjahrplanes weiter präzisiert. Ministerpräsident Li Keqiang hatte damals hervorgehoben, dass Chinas bisheriges Entwicklungsmodell nicht nachhaltig ist und deshalb bei einem „mittelhohen Wachstum“ um jährlich etwa 6 Prozent ein neues, sozial und ökologisch ausgeglichenes, auf die Binnennachfrage orientiertes Wachstum durchgesetzt werden muss. Der Weg dazu sei die Systemumstrukturierung der bisher investitions- und exportgetriebenen Volkswirtschaft zu einer innovationsgetriebenen. Im Mittelpunkt steht für die KP Chinas dabei die soziale Ungleichheit zu verringern, bis 2021 die Armut von 40 Millionen Menschen zu beseitigen, erst recht die extreme Armut von etwa 14 Millionen Menschen (Jahreseinkommen zirka 2.500 Yuan, rd. 330 Euro).

Blick zurück und nach vorn

Umso mehr lohnt in diesem Zusammenhang der Blick auf Gegebenheiten, die aus der 70-jährigen Geschichte der Volksrepublik hinführen zum heutigen Entwicklungsstand.

In Erinnerung bleibt, dass das einst zivilisatorisch führende Reich der Mitte 1949 zu den rückständigsten und ärmsten Ländern in der Welt zählte. Insbesondere die halbkoloniale Periode nach der Unterwerfung Chinas durch die imperialistischen Hauptmächte England, Frankreich, USA sowie Russland, Japan und Deutschland und der nach dem Sturz des feudalistisch-versteinerten Regimes der Qing-Kaiser 1911 folgende Bürgerkrieg und die faschistoide Expansion Japans nach 1931 bis zum Ende des II. Weltkrieges 1945, der gleichzeitige Bürgerkrieg (1927 bis 1949) zwischen der KP Chinas und ihrer Volksbefreiungsarmee gegen die Guomindang unter Chiang Kai-shek hatten das Land vollends ausgelaugt, die ohnehin rückständige Landwirtschaft weitgehend zerstört. In China waren seit Beginn der 1930er Jahre bis 1949 zwanzig Millionen Todesopfer zu beklagen.

Der Aufbauelan nach 1949 und die erzielten Anfangserfolge bis 1957 wurden jedoch überschätzt und waren verbunden mit einem „exzessiven Machtwillen“ und ohne „gewissenhaften Überprüfung der Lage“ - so die Autoren der 2012 bei New World Press, Peking, erschienen Monografie „Erfolgsgeheimnisse der KP Chinas“: Beim 1957 ausgerufenen „Großen Sprung nach vorn“ setzte die politische Führung bis 1960 unrealistisch hohe Ziele und Vorgaben und predigte einen „völlig überzogenen Egalitarismus“. Was folgte war, dass ein Großteil der Bevölkerung von 1959 bis 1961 hungerte, ehe ab 1962 eine wirtschaftliche Erholung begann. Die „linken Ideen“ bestanden aber fort. Ab 1966 tobte die „Kulturrevolution“, eine „neuerliche Katastrophe“. Sie endete 1976 mit dem Ableben Mao Zedongs.

Nach dem Bruch zwischen China und der Sowjetunion seit den späten 1950er Jahren bis Mitte der 1980er Jahre und innenpolitisch - eingedenk der zwei Katastrophen „Großer Sprung“ und „Kulturrevolution“ - war der Staats- und Parteiführung klar, dass das sowjetische Modell der politisch verkrusteten, überzentralisierten bürokratischen und in weiten Teilen vom Militärisch-Industriellen Komplex beherrschten Planwirtschaft zu Stagnation und Rückschritt führt. Ein eigener chinesischer Entwicklungsweg musste gesucht und gefunden werden. Dazu hatte Deng Xiaoping schon nach dem „Großen Sprung“ Anfang der 1960er-Jahre seinen pragmatischen Ansatz „egal ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“ formuliert. In diesem Sinne wurde mit dem 3. Plenum des 11. ZK der KPCh im Dezember 1978 der Prozess der Reform und Öffnung eingeleitet.

Weichenstellung Anfang der 1980er-Jahre

Mit die gravierendste Weichenstellung für die Entwicklung Chinas war die Entscheidung des ZK der KP Chinas zur „Reform der Wirtschaftsstruktur“ vom 20. Oktober 1984. Durch sie wurde die herkömmliche Auffassung von der Ausschließ-lichkeit von Plan- und Warenwirtschaft aufgegeben. Die Definition des Verhältnisses von Staatsplan und Markt blieb in dem Dokument aber noch offen. 1987 wurde dann jedoch auf dem 13. Parteitag der KP Chinas formuliert:

„Der Staat reguliert den Markt, und der Markt reguliert die Unternehmen.“ Die Kernaussage war, dass sich Planung und Markt „in einer Gesellschaft weitgehend miteinander vereinbaren lassen“. Dieser Prozess der Strategiefindung produzierte binnen Kurzem eine enorme Zuspitzung der seit 1982/83 angestauten sozialen und politischen Widersprüche. Sie mündeten in den Tian’anmen-Ereignissen vom Juni 1989.

Die Suche nach politischen, ökonomischen und sozialen Lösungen für die Ausweitung und Vertiefung des Reform- und Öffnungskurses wurde daher umso dringlicher. Von Deng Xiaoping initiiert und vorangetrieben wurde unter dem seit 1989 amtierenden Generalsekretär des ZK der KPCh, Jiang Zemin, im April 1992 erstmalig die Entwicklung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ definiert und deren Etappen von ihm im darauf folgenden Juni wie folgt charakterisiert:

Schaffung einer Warenwirtschaft, in der staatliche Planung mit marktwirtschaftlichen Elementen verknüpft wird, Aufbau einer geplanten Marktwirtschaft sowie Schaffung einer Marktwirtschaft.

1993 wurde der „Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft“ letztlich als Ziel in der Verfassung verankert. Seit über einem Vierteljahrhundert geht es seither darum, schrittweise durch die kontinuierliche Umsetzung und Vertiefung von Reformen Wachstum und Stabilität zu generieren, Armut zu beseitigen, soziale Gerechtigkeit durchzusetzen und als Gesamtziel zunehmende soziale Sicherheit und einen „bescheidenen Wohlstand“ zu erreichen.

Neue Seidenstraße“: Baustein auf dem Weg in die Weltspitze

Innen- wie außenpolitisch wird dabei die von Präsident Xi Jinping im Oktober 2013 gestartete „Belt and Road Initiative“ („Neue Seidenstraße“-Initiative) eine maß-gebliche Rolle spielen. Die BRI hat das Potenzial, der bedeutendste Wirtschaftsplan im 21. Jahrhunderts zu werden und neue Entwicklungsprozesse in der Globalisierung durchzusetzen. Aber: Für alle beteiligten Seiten begann damit ein komplizierter Lernprozess, der beim schwierigen Interessenabgleich Kompromissbereitschaft verlangt. China legt dem auch heutzutage die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ zugrunde, 1954 von den legendären Ministerpräsidenten Chinas und Indiens, Zhou Enlai und Jawaharlal Nehru, vereinbart. Dementsprechend prägen gegenwärtig vor allem fünf Bereiche das BRI-Projekt: die multilaterale Vernetzung in der Politik, in der Infrastruktur, im Handel, in Finanzbereichen und in der gesellschaftlichen Annäherung der Länder und Regionen.

Absehbar ist, dass in diesem Kontext die Beziehungen Chinas zu den Ländern der Europäischen Union - darunter zu Deutschland - in jeder Hinsicht gewichtiger werden. Politisch-ökonomisch gewinnt dabei die Ausprägung einer „multipolaren Welt“ weiter rasch an Kontur. Grundlage dafür bleibt, dass die EU der größte Wirtschaftspartner Chinas ist und China seit 2016 auf Platz eins als weltweit größter Handelspartner Deutschlands rangiert (Handelsvolumen 2018: 199,3 Mrd. Euro). Politisch wie ökonomisch sind und bleiben beide Seiten „Partner und Konkurrenten“.

Interessen abgleichen, Kompromisse suchen

Notwendig ist dabei ein ständiger Interessenabgleich, der stets erst im Ergebnis harter Verhandlungen zu tragfähigen Kompromissen führen wird. So formulierte im Mai 2017 der Vizepräsident der EU-Kommission Jyrki T. Katainen auf der „Belt & Road Conference“ in Peking acht Prinzipien, die aus EU-Sicht beim Seiden-straßenprojekt Handlungsgrundlage sein sollten:

• Transparenz bei Planung und Durchführung mit regelbasierten Ausschreibungen

bei gegenseitigem Marktzugang;

• Gemeinsame Entscheidungen der Beteiligten über die Prioritätensetzung bei den

Projekten;

• Strategisches Denken untersetzt durch solide Machbarkeitsstudien, vor allem

gerichtet auf Wirtschaft und Umwelt;

• Einbeziehung örtlicher und regionaler Partner;

• Sicherung der Nachhaltigkeit der Projekte;

• Sicherung von Kosteneffizienz und Teilung von Projektrisiken;

• Einbeziehung internationaler Banken wie der Europäischen Investitionsbank, der

Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Asian Development

Bank, der Asian Infrastructure Investment Bank;

• Win–win–Situation für alle beteiligten Seiten.

Alles in allem widerspiegelt der 70. Geburtstag der VR China den Wagemut, neue Entwicklungswege für den Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft zu suchen, zu finden und zu gehen, indem die Innen- wie Außenpolitik auf die Verknüpfung von programmatischer politischer Rahmensetzung mit der Entwicklung einer viel-gestaltigen gelenkten Marktwirtschaft ausgerichtet werden. Kern des Ganzen: Sozial werden in diesem Prozess beeindruckende Ergebnisse bei der Steigerung des Lebensniveaus der 1,4-Milliarden-Bevölkerung erbracht. China ist damit einer der wichtigsten Stabilitätsanker weltweit.

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