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Márcio Francisco

Brasiliens bewaffnete Politik

imago/Fotoarena

In seinem 30 Jahre langen politischen Leben hat Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro seine Verachtung für die Demokratie nie verborgen. Inmitten seines Streits mit dem Nationalkongress über die Kontrolle eines Teils des Bundeshaushalts rief Bolsonaro Ende Februar über Whatsapp seine Anhänger dazu auf, auf die Straße zu gehen und die Schließung des Kongresses sowie des Obersten Gerichtshofs zu fordern. Das wäre der erste Schritt zur Errichtung einer Diktatur.

Laut der brasilianischen Verfassung kann das zur Amtsenthebung führen: Der Chef der Exekutive darf die Bevölkerung nicht gegen die beiden anderen Mächte der Republik aufhetzen. Aber das ist nicht das erste Mal, dass Bolsonaro gegen geltendes Recht verstößt.

Seine Strategie ist stets dieselbe: er bittet seine Kinder, einen ihm nahestehenden Minister oder seine digitalen Milizen die staatlichen Institutionen öffentlich zu bedrohen. Wenn die Reaktion der Öffentlichkeit zu groß ist, sagt er, er sei mißinterpretiert worden.

Auch diesmal behauptete Bolsonaro, dass er die Whatsapp-Nachricht privat an „ein paar Dutzend Freunde“ geschickt hätte. In Interviews widersprach er den Mitgliedern seiner Regierung, die den Aufruf zu den Märzprotesten in sozialen Netzwerken unterstützten. Ein taktischer Rückzug.

Vielleicht bleibt dieser Versuch der extremen Rechten ein weiterer öffentlicher Misserfolg. Wir werden es bald sehen. Mit jedem Tag wächst jedoch die Gefahr eines undemokratischen Umbruchs.

Die Politik wird militarisiert

Die Ernennung eines weiteren Generals auf eine strategische Position in der Regierung und der Streik der Militärpolizei im nordöstlichen Bundesstaat Ceará in den letzten Tagen vertiefen diese Sorge. Beides sind Symptome eines beängstigenden Trends: die Militarisierung der brasilianischen Politik. Im Jahr 2018 wurden aus den Reihen der Streitkräfte (FFAA) und der Polizei 56 Landesabgeordnete, 14 Bundesabgeordnete, drei Senatoren und zwei Bundesstaat-Gouverneure gewählt.

Das offensichtlichste Beispiel demonstriert zweifellos die massenhafte Besetzung der Bundesregierung durch die Militärs. Der Vizepräsident und acht der 22 Minister Bolsonaros sind Militärs, fast alle Generäle, einige von ihnen noch aktiv. Nicht einmal während der Militärdiktatur (1964-84) wurden so viele Ministerposten durch Militärs besetzt. Laut Pressemeldungen gibt es auf allen Ebenen des nationalen Staatsapparates fast 3.000 Militärangehörigen.

Der Präsident benötigt die Streitkräfte vor allem aus drei Gründen: erstens, er braucht Kader, um die „Maschine“ operativ zu bedienen und weil er keine soliden Beziehungen zu einer der politischen Parteien des Landes hat, holt er sie aus den Kasernen; zweitens, im Gegensatz zu einer alten und vergessenen nationalistischen Militärtradition verlässt er sich in seinem Kreuzzug gegen die Linke und seiner unterwürfigen Haltung gegenüber der USA ideologisch auf das Militär; drittens, könnte seine zerbrechliche Regierung gegen die institutionelle und populäre Opposition eine Repressionsmacht brauchen.

Gleichzeitig räumt Bolsonaro den Streitkräften Privilegien ein, die der Wirtschaftspolitik seiner eigenen Regierung zuwiderlaufen. Dies gilt sowohl für die jüngste Rentenreform, von der das Militär unvergleichlich weniger betroffen war als die Bürger, als auch für den Haushalt des Verteidigungsministeriums, der im vergangenen Jahr um knapp 11 Prozent gestiegen ist. Zur gleichen Zeit kürzte der Wirtschaftsminister die Mittel aus dem gesamten Bundeshaushalt zum Nachteil der Bereiche wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit.

Aber die Regierung Bolsonaro ist auch von Spannungen und Krisen behaftet. In den letzten Monaten wurden zwei Generäle wegen ihren Differenzen mit den fundamentalistischen Flügeln des Bolsonarismus aus der Regierung entlassen. Daraufhin wurden sie von den digitalen Milizen des Präsidenten auf breiter Front angegriffen und gedemütigt. Andere Offiziere folgten ihnen. Es gibt weitere Offiziere, die sich zwar öffentlich nicht äußern, aber vom Ausmaß der Beteiligung der Streitkräfte an der Regierung besorgt sind.

Bolsonaro vertraut vor allem der Polizei

Ebenso besorgniserregend wie die zunehmende Präsenz der Streitkräfte in der Bundesregierung ist die wachsende Politisierung der Polizei, insbesondere der Militärpolizei (PM). Die Polizisten machen die politische Basis der Familie Bolsonaro aus: Vater Jair war 28 Jahre lang im Kongress, um die Ansprüche der Polizeibeamten zu verteidigen, und erhielt im Gegenzug einen großen Teil ihrer Stimmen; sein Sohn Eduardo war ein Bundespolizist. Sie stellten unzählige Polizisten und deren Verwandten als politische Berater ein. Die wichtigste brasilianische Polizei ist die PM, ein Erbe der Diktatur, die den Gouverneuren der Bundesstaaten unterstellt ist. Zusammen erreichen die Polizisten fast 500.000 Mann Stärke, während Heer, Marine und Luftwaffe insgesamt etwa 330.000 Angehörigen haben.

Gewalttätige Polizeistreiks

In letzter Zeit organisierten Polizisten der PM in sieben Bundesstaaten Streiks, was laut Verfassung verboten ist. In mindestens fünf dieser Bundesstaaten sind die Gouverneure keine Verbündeten von Bolsonaro. Der schwerwiegendste Fall war der kürzlich stattgefundene Streik der Militärpolizei des Bundesstaates Ceará. Ceará wird von Camilo Santana von der Arbeiterpartei (PT) regiert - der größten Oppositionspartei.

Die Bewegung der Polizisten der PM in Ceará ist gespalten, aber ihr radikalster Flügel, der sich aus jungen Soldaten zusammensetzt, sieht Bolsonaro als ihren großen Führer und lässt sich von seinen rechtsextremen Reden inspirieren. Im angespanntesten Moment des Konflikts, verhängte eine Gruppe vermummter Polizisten eine Ausgangssperre in der Stadt Sobral und löste damit Terror in der Bevölkerung aus. Als der Oppositionssenator und der ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Cid Gomes die Meuterei zu beenden versuchte, wurde er angeschossen und entkam knapp dem Tode. Die Auseinandersetzungen im Bundesstaat kosteten bisher 220 Menschen das Leben.

Eine rechtsradikale Polizeibewegung

Es bestehen beunruhigende Anzeichen dafür, dass es eine nationale Bewegung rechtsextremer Polizisten der PM gibt. Der wichtigste Ideologe der Regierung, Olavo de Carvalho, ein Paranoiker, der glaubt, dass die Erde flach und jeder, der mit ihm und dem Präsidenten nicht übereinstimmt, ein Kommunist sei, bietet seit Juli letzten Jahres kostenlose „Online-Philosophiekurse“ für Polizisten der PM. Das ist nichts anderes als rechtsextreme Indoktrination, und es ist nicht abwegig, sich vorzustellen, dass dort einige neue Bolsonaro-affinen Polizeiführer ausgebildet werden.

Hinzu kommen immer mehr Indizien für die Verwicklung des Bolsonaro-Clans in die „Milícia“, eine kriminelle Organisation in Rio de Janeiro, die sich hauptsächlich aus ehemaligen Polizisten und aus aktiven Polizeibeamten zusammensetzt. Die „Milícia“ hat im Bundesstaat Rio de Janeiro bereits Machtpositionen erobert und scheint ihren Einfluss auf die Zentralmacht auszudehnen.

Die Eliten zweifeln an Bolsonaros Erfolg

Bolsonaro wurde mit massiver Unterstützung der herrschenden brasilianischen Elite gewählt: Bankiers, Industriellen, Medienbarone, Bosse der Agrarindustrie, Kirchen und das Militär. Was sie alle eint, ist eine extrem-neoliberale Politik, die das öffentliche Erbe durch eine weitere Privatisierungswelle vernichten, die natürlichen Ressourcen missbrauchen, die Umwelt und die Bevölkerung auf dem Land und im Wald vernichten und den Rest der Arbeits- und sozialen Rechten des brasilianischen Volkes beseitigen soll, um dem Großkapital, das sich seit 2013-14 in der Krise befindet, höhere Profiten zu garantieren.

Teile der bürgerlichen Mittelschicht, zweifeln bereits daran, dass Bolsonaro dieses Projekt verwirklichen kann. Diese könnten eventuell unter einer „demokratischen“ Fassade die Amtsenthebung des Präsidenten und die vollständige Übergabe der Macht an das Militär anstreben. Es gibt aber auch Kreise, die sich in einem Szenario von Wirtschaftskrise und zunehmender Armut für eine autoritäre Lösung entscheiden könnten, mit oder ohne Bolsonaro.

Progressive gesellschaftliche Gruppen Brasiliens müssen dagegen sowohl auf der Straße als auch in allen politischen Räumen dem Vormarsch der autoritären Kräfte des Landes entgegenwirken. Gleichzeitig müssen sie ein Gegenkonzept entwickeln: ein wirklich demokratisches, volksnahes Projekt, das auf die Umwandlung der archaischen Gesellschaftsstrukturen Brasiliens abzielt.


Márcio Francisco ist Aktivist der Bewegung der Landlosen (MST) in Brasilien. Sein Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert.


 

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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.