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Francisco Alvarez

Naht das Ende des Neoliberalismus?

imago images / agefotostock

Am kommenden Sonntag, stimmen die Chilen*innen darüber ab, ob sie die Verfassung der Diktatur, die ihnen vor 40 Jahren aufgezwungen wurde, durch eine neue und demokratische Verfassung ersetzen wollen. Mit einem blutigen Militärputsch am 11. September 1973 hatte in Chile General Augusto Pinochet den gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt. Anschließend wurde das Land als „Versuchskaninchen“ missbraucht, die von den USA gewünschte neoliberale Wirtschaftspolitik mit allen Mitteln durchgesetzt und getestet.

Am 25. Oktober sind die Chilen*innen aufgerufen in einem Referendum darüber zu entscheiden, ob sie eine neue Verfassung wollen. Und wenn ja, durch welches Gremium soll sie ausgearbeitet werden? Zwei Möglichkeiten stehen zur Wahl: Durch eine Versammlung, die sich je zur Hälfte aus Delegierten und Parlamentarier*innen zusammensetzt. Oder eine, die ausschließlich aus Delegierten besteht. In beiden Fällen sollen die Delegierten nur zum Zwecke der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewählt werden.

Wenn die Bürger*innen die erste Frage mit einem "Ja" beantworten, wird der konstituierende Prozess eingeleitet. Am 25. Oktober geht es also in der Eingangsvolksbefragung darum, ob Chile den Prozess einleitet, an dessen Ende das Land eine neue Verfassung erhält. Später müssten konstituierende Delegierte gewählt werden und schließlich die Wählenden bei einem letzten Referendum entscheiden, ob sie dem Verfassungsentwurf dann zustimmen.

Eine Gesellschaft in Krise

Hervorgerufen durch das neoliberale System einerseits und die Auflösung herkömmlicher sozialer Strukturen andererseits durchlebt Chile seit Jahren eine Krise. Allen voran führte die Schwächung der alten Arbeiterklasse und die Entstehung einer neuen Mittelschicht zu einer raschen Fragmentierung der Gesellschaft. Viele Chilen*innen sehen weder ihre Interessen durch die alten politischen Parteien vertreten, noch gelingt es ihnen gestalterisch Einfluss auf den Staat zu nehmen. Schon viel zu lange werden soziale Probleme missachtet, was einen Rückzug der Menschen ins Private nach sich zieht. Die Wahlbeteiligung spiegelt dies, ihre Rate ist in einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Protegiert durch die aktuelle, noch aus der Zeit des früheren Diktators Augusto Pinochet stammende Verfassung, blockiert die politische Rechte im Parlament jeden Reformversuch. Die weitverbreitete Hoffnung, das Leben der Menschen könnte verbessert werden, hat sich in Wut und Staub aufgelöst. In den Augen der Bürger*innenhat das politische System des Landes, und damit ihre Garantin, die Verfassung aus dem Jahr 1980, ihre Legitimität eingebüßt. Die Eruption der Proteste im letzten Jahr schien dann nur noch folgerichtig. Ein Ventil. Die Proteste waren unmittelbar verwoben mit der Repräsentations- und Legitimitätskrise und mit dem Typ von Individuum, den der chilenische Neoliberalismus produzierte.

Das Ziel: Eine echte Demokratie

Die derzeitige Verfassung stammt noch aus den dunklen Zeiten der Diktatur Augusto Pinochets. Um das neoliberale Modell zu verankern, wurde sie 1980 so verfasst, dass sie nicht geändert werden kann. Jaime Guzman, der Vater dieser Verfassung, verdeutlichte das Ziel dieses Gesetzeswerkes: "Die Verfassung muss sicherstellen, dass die Gegner, wenn sie regieren, gezwungen werden eine Politik zu verfolgen, die sich nicht so sehr von der unterscheidet, die wir uns wünschen würden." Zu diesem Zweck wurde in die Verfassung ein Vetorecht für die Minderheit eingebaut, mit dem jede Initiative blockiert werden kann, die das neoliberale Modell abzuschaffen trachtet.

Doch die Bestrebungen wachsen, die sich mühen, die Politik zurück in die Gesellschaft zu lassen. Das geht nur auf einer anderen Basis. Darum und um nichts weniger wird es an diesem 25. Oktober gehen. Ein „Ja“ und die Option des "Verfassungskonvents" als konstituierendes Organ würde bedeuten, dass die Chilen*innen mehrheitlich die aktuelle Verfassung ablehnen. Das wäre das Ende der konstitutionellen Festlegung auf den Neoliberalismus.

Obwohl es heute zu früh ist, um wissen zu können, welche Merkmale und welchen Geist der neue Text haben könnte, so kann man doch schon sagen, dass die große Mehrheit der Chilen*innen nicht mehr unter der Verfassung der Diktatur leben möchte. Und dass im künftigen Verfassungsorgan alles Gegenstand der Diskussion sein wird, ohne dass eine Minderheit Vorwürfe der Anti-Verfassungsmäßigkeit erheben darf. So ist es zwangsläufig, dass eine neue Grundcharta per Definitionem etwas anderes sein wird als das, was heute das Leben der Chilen*innen prägt.

Das Referendum bedeutet daher, dass wir Chilen*innen zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht nur eine inhaltliche Diskussion darüber führen können, wie wir leben wollen, sondern auch die institutionelle Gelegenheit dazu nutzen wollen - und damit zum ersten Mal in unserem Land und unserer Geschichte - ein wirklich demokratisches Verfassungsabkommen zu erreichen. Als Bürger*innen wollen wir nicht jedes Mal Gefangene, der sich wiederholenden Erpressungen des rechten Flügels bleiben. Wenn die Öffentlichkeit wesentliche Änderungen fordert, wird ihr noch heute regelmäßig eine perverse Konsenslogik auferlegt. Die geht so: "Entweder nehmen sie, was wir ihnen anbieten, oder es gibt einfach keine Einigung.“ Und: "Wir fahren mit der aktuellen Verfassung fort.“

Ein langer historischer Prozess

Es ist wahr, dass die aktuelle Situation die gesellschaftliche Achse nach links verschoben hat. Sie hat die Parteien der Mitte und der Mitte-Links, die überzeugte Neoliberale sind, gezwungen, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch den Verfassungskonvent zu genehmigen. Etwas, was vor ein paar Jahren unmöglich schien.

Sowohl die Christdemokratie als auch die Sozialistische Partei, deren ehemaliger Präsident vor einigen Jahren die Idee einer neuen Verfassung als "Opiumrauchen" bezeichnete, sind heute begeisterte Befürworter einer Verfassungsänderung. Dies bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass sie darauf drängen werden, eine völlig andere Gesellschaftsordnung aufzubauen, aber zumindest eine mit Verbesserungen gegenüber den "Exzessen", die in den letzten Jahrzehnten erlebt wurden.

Die Rechte hat ihrerseits eine zweigleisige Strategie verfolgt, die darin bestand, einen Verfassungsänderungsprozesses generell abzulehnen, gleichzeitig aber auch einigen Gruppen und Politiker*innen zu erlauben, sich für das JA einzusetzen. Dies würde es ihnen ermöglichen, unabhängig vom Ergebnis, sich am Sieg zu beteiligen.

Es gibt aber auch Gefahren. Einige bekannte rechte Politiker*innen vertreten einigermaßen erfolgreich die These, dass sie sich mit aller Kraft dem Verfassungsprozess anschließen sollten, ohne wirklich an demokratischen Beratungen teilzunehmen. Stattdessen, so geht die Argumentation, sollen sie sicherstellen, dass sie ein Drittel der Delegierten des Verfassungskonvents stellen. Wenn sie Erfolg damit haben, können sie alles ablehnen, was sie nicht begünstigt. Auf diese Weise wollen sie den Verfassungsprozess blockieren und schließlich spektakulär scheitern lassen.

Sowohl die opportunistischen Strategien der Rechten als auch der neoliberale Hintergrund des politischen Zentrums zwingen uns, den Referendumsprozess und den politischen Prozess, der vor uns liegt, um es mit den Worten Antonio Gramscis zu formulieren, mit "Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens" zu betrachten.  

Wir sind uns bewusst, dass das Referendum und die neue Verfassung im Transformationsprozess Chiles Kerninstanzen sein werden, aber sie werden nicht der Höhepunkt oder das Ende unserer Bemühungen sein. Wir glauben, dass unsere Politik darin besteht, ein hegemoniales historisches Projekt zu konsolidieren, das starke Loyalitäten unter den Bürger*innen aufbaut und die Interessen der Mehrheit wirklich vertritt. Dies erfordert eine Perspektive auf lange historische Prozesse. Darin erwarten uns Höhen und Tiefen, vielleicht einige Niederlagen, aber auch Triumphe.

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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.