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Niklas Franzen

Linke in Brasilien: Stark aber erfolglos

Bei den Kommunalwahlen in Brasilien Ende November machten sich radikal linke Kandidat*innen Hoffnungen. Doch fast überall scheiterten sie an ihren konservativen Konkurrent*innen. Die Linken im Land sprechen oft über demokratischen und überparteilichen Bündnissen, die jedoch fast immer an parteipolitischen Differenzen. Die Ergebnisse der Kommunalwahl lässt nun fürchten, dass beim Präsidentschaftswahlen in 2022 die Wahlkatastrophe sich wiederholt, die 2018 den rechtsradikalen Jair Bolsonaro an die Macht katapultierte.

Am Ende eines langen Tages meldete sich Guilherme Boulos aus seinem kleinen Haus im Randgebiet von São Paulo zu Wort. Seine Kampagne, erklärte der linke Politiker per Videobotschaft, habe einen Weg in die Zukunft gewiesen. Es sei möglich Politik zu machen, ohne mit dem Träumen aufzuhören. Wenige Minuten zuvor war klar geworden, dass der Sozialist die Stichwahl um den Bürgermeisterposten in der größten Stadt Lateinamerikas verloren hatte. Wie ein Verlierer hörte sich Boulos jedoch nicht an.

Nachdem am 15. November die erste Runde der Kommunalwahlen stattfand, waren am Sonntag Brasilianer*innen in 57 Städten zur Stichwahl aufgerufen. Gespannt blickten viele auf die Wahl in São Paulo, wo Guilherme Boulos, Stratege der Wohnungslosenbewegung (MTST) und Politiker der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), gegen den amtierenden Bürgermeister Bruno Covas von der rechten Partei der Brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) ins Rennen zog.

Boulos, der mit der 86-jährigen Ex-Bürgermeisterin Luiza Erundina als Vize antrat, hatte den amtierenden Bürgermeister Covas Versagen im Umgang mit der Corona-Pandemie und der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit vorgeworfen. Soziale Bewegungen und viele prominente Künstler*innen hatten den Linken bei seiner Aufholjagd unterstützt. Doch die große Überraschung blieb aus und am Ende fiel das Ergebnis deutlich aus. In der eher konservativen Finanzmetropole São Paulo gewann Covas mit fast 60 Prozent der Stimmen klar. Eine konservative Allianz aus bürgerlichen Parteien, traditionellen Medien und der Unternehmerschaft hatten vor der Wahl die Reihen geschlossen, Werbung für den Amtsinhaber gemacht und immer wieder versucht, Boulos' Aktivismus als kriminell zu brandmarken. Covas bezeichnete Boulos als „Radikalen“ und erklärte, „keine Abenteuer“ wagen zu wollen.

Trotz der beidseitigen Angriffe: Die beiden Politiker hatten sich ein zivilisiertes Duell geliefert, sich bei TV-Debatten ausreden lassen, keine persönlichen Angriffe gemacht. Boulos gratulierte Covas noch am Sonntag zu seinem Wahlsieg. Covas hatte Boulos wiederum Genesungswünsche geschickt, als bekannt wurde, dass sich dieser mit Covid-19 infizierte hatte. Keine Selbstverständlichkeiten in Brasilien des Jahres 2020.

In seiner Video-Ansprache erklärte Boulos, gesiegt zu haben, obwohl die Wahl verloren ging. In der Tat ist es ein Erfolg, dass der Sozialist die Stichwahl erreichte. Seine Kampagne begeisterte viele junge Wähler*innen, es gelang ihm ein breites Bündnis zu schmieden, mit seinem Online-Auftritt war er allen anderen Kandidat*innen um Lichtjahre voraus. Boulos, der aus einer intellektuellen Mittelschichtfamilie kommt, aber in der sozialbenachteiligten Vorstadt wohnt, holte in vielen armen Stadtteilen die Mehrheit – dort, wo die Linke zuletzt Schwierigkeiten hatte zu punkten. Der Sozialist darf sich Hoffnungen für die Zukunft machen und nicht wenige handeln den charismatischen 38-jährigen gar als aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2022.

Die Kommunalwahlen waren jedoch alles andere als ein Grund zum Feiern für Brasiliens Linke. Insbesondere die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien gingen als lachende Sieger hervor - also jene Kräfte, die bei der Präsidentschaftswahl 2018 abgestürzt waren. Neben den Bürgermeister*innen wurden bei der Kommunalwahl auch die Stadträte neu gewählt. Auch hier gewannen vor allem bürgerlich-konservative Kandidat*innen kräftig dazu.

In der nordöstlichen Millionenstadt Salvador da Bahia und in Belo Horizonte setzten sich Mitte-Rechts-Kandidaten bereits in der ersten Runde durch. In Rio de Janeiro standen sich am Sonntag zwei rechte Kandidaten in der Stichwahl gegenüber: Der neoliberale Ex-Bürgermeister Eduardo Paes gewann mit großem Vorsprung vor dem amtierenden Amtsinhaber Marcelo Crivella. Der ultrarechte Pastor hatte im Wahlkampf die Unterstützung von Präsident Jair Bolsonaro genossen, ist jedoch in zahlreiche Skandale verstrickt und so unbeliebt wie kaum ein Bürgermeister zuvor.

Auch in vielen anderen Städten stürzten Bolsonaro-nahe Kandidat*innen bei der Wahl ab. So blieb es am Sonntag auffällig ruhig auf dem sonst so geschäftigen Twitter-Profil des rechtsradikalen Präsidenten. Allerdings: Die Kommunalwahlen sind kein Gradmesser für die Präsidentschaftswahl 2022. Dafür ist das Parteiensystem in Brasilien zu komplex, Wahlentscheidungen sind zu sehr personalisiert und Lokalpolitik ist zu weit weg von der Hauptstadt Brasília. So ist es kein Widerspruch, dass Präsident Bolsonaro trotz der Schlappe bei den Kommunalwahlen Rekord-Umfragewerte verzeichnet. Dies hat vor allem mit den Corona-Nothilfen für arme Familien zu tun, dessen Urheberschaft sich Bolsonaro geschickt aneignete – obwohl seine Regierung eigentlich einen viel geringeren Betrag auszahlen wollte.

Auch in der südbrasilianischen Hafenstadt Porto Alegre kam es am Sonntag zur Stichwahl. In den Umfragen lag Manuela d'Ávila, Kandidatin der sozialdemokratisch ausgerichteten Kommunistischen Partei von Brasilien (PCdoB), kurzzeitig vorne. Doch am Ende setzte sich der rechte Politiker Sebastião Melo zur großen Enttäuschung der Linken durch.

Die Wahl hatte noch mehr Verlierer: Frauen. In nur einer der 26 Landeshauptstädte konnte sich eine Frau durchsetzen. Von den 5.565 Bürgermeister*innen sind nur 12 Prozent Frauen. Im brasilianischen Bundesparlament sitzen derweil nur 15 Prozent weibliche Abgeordnete – der niedrigste Wert in Lateinamerika.

Allerdings gelang es vielen Schwarzen, LGBTI und Indigenen, sich ihren Platz in der Politik zu erkämpfen. In Rio de Janeiro wird Monica Benício, Witwe der ermordeten Politikerin Marielle Franco, künftig im Stadtparlament sitzen. In São Paulo zieht die schwarze Transfrau Erika Hilton als Abgeordnete mit den meisten Stimmen in den Stadtrat der Megametropole. Beide Politiker*innen sind Mitglied der PSOL.

Die Partei feierte in der nordbrasilianischen Stadt Belém mit dem Wahlsieg ihres Kandidaten Edmilson Rodrigues gegen einen Bolsonaro-nahen Kandidaten einen weiteren Achtungserfolg. Die sozialistische Partei, die 2004 von abtrünnigen Politiker*innen der Arbeiterpartei (PT) gegründet wurde, läuft der PT immer mehr den Rang ab. Sie ist inhaltlich dynamischer, arbeitet eng mit sozialen Bewegungen und Favela-Gruppen zusammen und wird weniger mit Korruptionsskandalen in Verbindungen gebracht als die PT. Während die PSOL lange Zeit eher eine Partei der intellektuellen Mittelschicht war, ist es ihr bei dieser Wahl besser gelungen, auch ärmere Wähler*innen zu mobilisieren.

Die PT setzte bis auf einzelne Ausnahmen ihren Abwärtstrend fort. In Recife musste die PT-Kandidatin Marilia Arraes eine schmerzliche Niederlage gegen den Mitte-Links-Kandidaten João Campos, Spross einer bekannten Polit-Familie, einstecken. Der Partei gewann zum ersten Mal seit der Re-Demokratisierung 1985 keine der 26 Landeshauptstädte. Ein Desaster für die PT. Dennoch: Da Wahlen in Brasilien personalisiert sind, kann sich die PT immer noch Chancen für die Präsidentschaftswahlen 2022 ausmalen, wenn sie es schafft, den populären Ex-Präsidenten Lula ins Rennen zu schicken. Allerdings könnten ihm dabei seine Verurteilungen im Weg stehen. Außerdem laufen zahlreiche weitere Verfahren gegen Lula und bei weiten Teilen der Mittel- und Oberschicht ist der Ex-Gewerkschafter mit der Kratzstimme die Hassfigur schlechthin.

Die bürgerlich-rechten Parteien haben zwar mehrere prominente Aspiranten für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2022. Allerdings ist es fraglich, ob es einer Person wirklich gelingen wird, herauszustechen. In progressiven und linken Kreisen wird zwar gerne von einer demokratischen, überparteilichen Allianz gesprochen, solche Bündnisse sind jedoch in der Vergangenheit häufig am Machthunger einzelner Kandidat*innen, inhaltlichen Streitpunkten und parteipolitischen Differenzen gescheitert. So könnte sich die Katastrophe aus dem Jahr 2018 wiederholen – und der rechtsradikale Bolsonaro erneut als lachender Dritter aus der Wahl hervorgehen.


Niklas Franzen, Jahrgang 1988, lebt in Berlin und São Paulo. Seit vielen Jahren berichtet aus und über Brasilien.


 

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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.