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Tsafrir Cohen

Israel: Von Pöstchen-Geschacher und Annexionsgelüsten

Activestills
Protest gegen den "Trump-Plan", auf dem Schild rechts steht (hebr.): "sich der Besatzung widersetzen", Tel Aviv, Februar 2020.

Für die Opposition ist das der absolute Super-GAU: Nach eineinhalb Jahren Dauerwahlkampf und drei Urnengängen, in denen die Opposition lautstark die Person des amtierenden Ministerpräsidenten in den Mittelpunkt stellte, ihn als Zerstörer von Rechtsstaat und Demokratie anprangerte und erfolgreich eine Mehrheit in der Knesset erringen konnte, ist es Benjamin Netanjahu letztlich doch gelungen, zentrale Akteure des Oppositionslagers für eine Regierungskoalition zu gewinnen. Jetzt drohen die Annexion des Westjordanlandes durch Israel und neue Spannungen im Nahen Osten.


von Tsafrir Cohen

Für die Opposition ist das der absolute Super-GAU: Nach eineinhalb Jahren Dauerwahlkampf und drei Urnengängen, in denen die Opposition lautstark die Person des amtierenden Ministerpräsidenten in den Mittelpunkt stellte, ihn als Zerstörer von Rechtsstaat und Demokratie anprangerte und erfolgreich eine Mehrheit in der Knesset erringen konnte, ist es Benjamin Netanjahu letztlich doch gelungen, zentrale Akteure des Oppositionslagers für eine Regierungskoalition zu gewinnen. Mit 73 von 120 Knesset-Abgeordneten weiß das nunmehr fünfte Kabinett Netanjahu eine bequeme Mehrheit hinter sich. 

Für Netanjahu ging es um das persönliche Überleben, da er sich als Premierminister zu Recht bessere Chancen ausrechnet, wenn er wegen mehrfacher Veruntreuungs- und Bestechlichkeitsvorwürfen vor Gericht erscheinen muss. Folglich schürte er geschickt die von der Corona-Krise verursachten Ängste der Menschen, um seinen Hauptkonkurrenten, Oppositionsführer Benny Gantz, in eine Koalition der Nationalen Einheit zu zwingen und versüßte ihm die Entscheidung, indem er das Kabinett dermaßen vergrößerte, dass die 19 abtrünnigen Oppositionsabgeordneten – etwa die Hälfte der Hauptoppositionsliste Blau-Weiß um Gantz sowie zwei der drei Abgeordneten der Arbeitspartei – unter sich sage und schreibe 15 Ministerposten aufteilen können. 

Dass der dramatische Showdown zwischen den Pro- und Anti-Netanjahu-Lagern zu einem Geschacher um derart esoterische Pöstchen wie Minister für Wasserfragen oder für Gemeinschaftsbildung verkommen konnte und dass Netanjahu nicht einmal auf die Rechtsaußenparteien um seine alten Wegbegleiter*innen Avigdor Lieberman, Ajelet Schaked und Naftali Bennett als Mehrheitsbeschaffer*innen angewiesen war, lässt tief blicken. Jenseits des großen Wahldramas bestand und besteht nämlich ein breiter Konsens von Rechtsaußen bis in die bürgerliche und sozialdemokratische Mitte, wenn es sich um die gesamtpolitischen Herausforderungen des Landes handelt. Dies trifft auf die Fortführung einer im Grundsatz neoliberalen Wirtschaftspolitik zu und gilt unübersehbar in Fragen von Krieg und Frieden, insbesondere beim israelisch-palästinensischen Konflikt. 

Annexionsbestrebungen 

Und eben hierzu stellt die Koalition jetzt entscheidende Weichen. Der Koalitionsvertrag sieht vor, schon in diesem Sommer ein Gesetz zur «Anwendung israelischer Souveränität» auf Teile der Westbank einzureichen. Dieses Gesetz baut offenbar auf dem sogenannten «Jahrhundertdeal» des US-Präsidenten Donald Trump auf. Dieser Deal sieht vor, dass Israel etwa 30 Prozent der Westbank annektiert. Damit wird eine schon heute bestehende Situation legalisiert und festgeschrieben, bei der die Palästinenser*innen in mehrere voneinander geografisch getrennte, dichtbevölkerte Enklaven verdrängt werden. Dass die palästinensische Seite dieses «Homeland-System» rundweg ablehnt, stört weder die Trump-Administration, noch den israelischen Mainstream im Geringsten. 

Bislang vermieden es alle Netanjahu-Kabinette klarzustellen, wie sie sich eine endgültige Lösung des Konflikts genau vorstellen. Denn, unter dem Mantel der Uneindeutigkeit konnten sie nach und nach die Realitäten vor Ort nach Gutdünken gestalten, sprich immer weitere Flächen der besetzten Westbank aneignen, immer mehr eigene Staatsbürger*innen dort ansiedeln und die Infrastruktur zugunsten der Siedler*innen ausbauen. Das war zwar eindeutig völkerrechtswidrig, führte aber zu keinerlei Konsequenzen, da die palästinensische Seite, das Ausland und friedenswillige Israelis weiterhin die Hoffnung hegten, die Zweistaatenlösung durch künftige Gespräche doch noch durchsetzen zu können. Lediglich die Rechtsaußenparteien und der rechte Flügel des Likud forderten schon vorher eine sofortige Annexion der gesamten oder von Teilen der Westbank. Um keine Flanke von rechts offen zu lassen, ging Netanjahu scheinbar auf diese Wünsche ein und versprach eine vage gestaltete Annexion, ohne je konkret zu werden. Der Wille der jetzigen Koalition diese Annexion zu konkretisieren, dadurch eine endgültige Territoriallösung einseitig festzulegen und damit einer Zweistaatenlösung eine endgültige Absage zu erteilen, ist also ein enorm bedeutender Schnitt, der mit einigen entscheidenden Entwicklungen zusammenhängt. 

Zum einen forcieren ausschlaggebende Teile der US-amerikanischen Administration eine solche Annexion. Man munkelt gar, sie möchten die Annexion mehr als ihre israelischen Gegenüber, damit Trump auf dem Weg zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst seiner evangelikalen und neokonservativen Wählerschaft einen außenpolitischen Erfolg vorweisen kann. Desweiteren steht die EU lange nicht mehr geschlossen hinter der Zweistaatenlösung, und etwaige Sanktionen, ähnlich denen, die gegen Russland aufgrund der Krim-Annexion verhängt wurden, wären heute undenkbar. Dafür haben Israels Ethnonationalist*innen zu viele Gesinnungsgenoss*innen[1]. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó hat jedweden Druck auf Israel abgewiesen – eine ernst zu nehmende Aussage angesichts des Einstimmigkeitsprinzips der EU in außenpolitischen Fragen. Auch im für Israel weitaus bedeutenderen Westen Europas muss die israelische Regierung kaum Konsequenzen fürchten. So wird die Bundesregierung gegen jede Annexion protestieren, nach momentaner Lage aber jeden Versuch, den Worten Taten folgen zu lassen, im Keim ersticken. Und: Angesichts weitaus grausamerer Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Region, die den israelisch-palästinensischen Konflikt relativieren, sowie einer ständigen kampagnenartigen Berieselung von interessierter Seite, jede Diskussion um konkrete Schritte gegen die israelische Besatzungspolitik mit Antisemitismus gleichzusetzen, ist auch auf Seiten der Zivilgesellschaft kaum nennenswerter Protest zu erwarten. In der Folge haben die Regierenden in Jerusalem zu Recht keine Angst mehr wie vormals Südafrika mit einer Anti-Apartheid-Kampagne konfrontiert zu werden, wie sie noch die Premierminister Ehud Olmert (Likud, später Kadima) und Ehud Barak (Arbeitspartei) befürchten mussten.[2]. 

Die Entwicklungen im Ausland finden ihre innenpolitische Entsprechung: Im Jahr 2020 hat sich das gesamte israelische politische Gemeinwesen soweit ethnonational eingeordnet, dass sich keine einzige nennenswerte jüdische Gruppe mehr gegen eine Annexion stemmt. Die warnenden Stimmen der beiden noch lebenden Ex-Premiers des Landes, Barak und Olmert, gelten heute als geradezu randständige Positionen. 

Das progressive Lager 

Da sich die Hauptopposition mit der Regierungsbeteiligung selbst desavouiert hat, kommt den Parteien links der Mitte große Verantwortung zu. Doch auch die (links)liberal bis sozialistisch geprägte Meretz-Partei, die als Hort des aus Europa stammenden jüdischen Bildungsbürgertums gilt und die für eine Zweistaatenlösung auf der Basis der international anerkannten Grenzen Israels, für eine gerechtere Sozial- und Wirtschaftsordnung sowie die Stärkung von Demokratie und Rechtstaats steht, geht schwer beschädigt aus dem Wahlmarathon hervor. Beim letzten Wahlgang ging sie mit der Arbeitspartei ein Wahlbündnis ein. Letztere ist jetzt Teil der Netanjahu-Koalition, während Meretz mit lediglich drei Abgeordneten in der Opposition vertreten ist. 

Den einzigen Lichtblick stellt die Gemeinsame Liste dar. Dieser Zusammenschluss von vier Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel (etwa 20 Prozent der israelischen Staatsbürger*innen) repräsentiert und sehr unterschiedliche politische Positionen – von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen – versammelt, errang 15 Parlamentssitze. Unter ihren Abgeordneten gibt es Muslim*innen, Christ*innen, Drusen, Beduinen sowie einen jüdischen Sozialisten. Vor allem die sozialistische Demokratische Front für Frieden und Gleichheit, Chadasch/al-Dschabha, sorgt innerhalb des Bündnisses dafür, dass die Gemeinsame Liste ein Programm hat, das nicht nur die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel berücksichtigt, sondern eine progressive Vision für Israel insgesamt beinhaltet: ein Ende der Besatzung, mehr soziale Gerechtigkeit und eine Demokratie, die mehr ist als die Willensbekundung der Mehrheit. Damit konnte sie bei den letzten Wahlen die Zahl ihrer jüdischen Wähler*innen weiter erhöhen: Die Schätzung liegt bei einigen Zehntausend jüdischen Israelis. 

Doch, während die Gemeinsame Liste in der gesamten arabischen Welt, ja weltweit, aufmerksam, mitunter begeistert wahrgenommen wird, da sie einen Gegenpol zu den mitunter kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerungsgruppen in anderen Ländern der Region darstellt, wird sie in Israel von allen Parteien bis auf Meretz nicht als Teil des legitimen politischen Spiels betrachtet. Dies vermindert ihre Wirksamkeit stark und erklärt zum Teil, warum eine Mehrheit des Anti-Netanjahu-Blocks zu keiner Koalition führen konnte. 

Fazit 

Angesichts des internationalen wie nationalen Koordinatenwechsels und der Schwäche der Opposition stehen die Zeichen auf Annexion. Diese könnte recht schnell angegangen werden: Da ein Wahlsieg Trumps alles andere als gewiss ist und Präsidentschaftskandidat Joe Biden bereits seine Ablehnung von Annexionen signalisiert hat, könnte der Druck wachsen, noch vor den US-Wahlen im November dieses Jahres zur Umsetzung zu schreiten. Der eben begonnene Gerichtsprozess gegen Netanjahu könnte auch eine Rolle spielen: Eine Annexion könnte ihm in dieser Situation nutzen, um sich als Opfer linker Rankünen zu inszenieren und würde ihm auch, falls er dem Ende seiner Amtszeit entgegensehen sollte, einen gewichtigen Platz als «Retter von Großisrael» in den Geschichtsbüchern der Nation sichern. Ob sich jemand hiergegen stemmen kann?


Tsafrir Cohen ist Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung


Dieser Artikel erschien zunächst am 27.5.2020 auf der Webseite des Israelbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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