Die Demokratische Volksrepublik Algerien im Wandel?
Am 18. April 2019 sollte Abdelaziz Bouteflika zum fünften Mal zum Staatspräsidenten gewählt werden. Das Amt hatte er seit 1999 inne, 2009 wurde die Verfassung geändert, damit er weitere Male kandidieren (und gewinnen) konnte. Die seit mehr als einem Monat unvermindert andauernden Massenproteste führten schließlich am 13. März dazu, dass er auf die Kandidatur verzichtete. Am 3. April trat er zurück.
2013 hatte der Präsident mehrere schwere Schlaganfälle erlitten. Er sitzt im Rollstuhl, kann sich kaum bewegen oder sprechen. Es war daher unwahrscheinlich, dass er die Amtsgeschäfte ausübt. Schon seit dem Tod des zweiten algerischen Präsidenten Houari Boumedienne (27. Dez.. 1978) ist unklar, wer die wirkliche Macht in Algerien ausübt, weshalb im Lande von le pouvoir („die Macht“) oder la nébuleuse („die Undurchsichtige“) gesprochen wird.
Die Armee spielte in der algerischen Politik schon immer eine zentrale Rolle: Der erste Präsident Ahmed Ben Bella kam nach der Unabhängigkeit (1962) mit ihrer Hilfe an die Macht, bis ihn am 13. Juni1965 sein Stellvertreter und Verteidigungsminister Oberst Boumedienne aus dem Amt putschte. Seither kamen alle Präsidenten aus dem Militär oder wurden von diesem eingesetzt und wieder aus dem Amt verjagt.
Ein System der Korruption
Algerien ist ein Rentenstaat, d. h. nahezu die gesamten Staatseinkünfte stammen aus dem Rohstoffexport, in diesem Falle Erdöl und vor allem Erdgas. Im Gegenzug müssen rund 80 Prozent der Grundnahrungsmittel und fast die Gesamtheit der Pharmazeutika und Gebrauchsgüter importiert werden. Eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte oder auf Autarkie zielende Industrialisierung hat nicht stattgefunden. Somit ist der Staat zentraler wirtschaftlicher Akteur. Seine Einnahmen – und damit die Fähigkeit zur Subventionierung von Grundbedürfnissen (Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau, Infrastruktur) – sind in den letzten Jahren aufgrund des sinkenden Ölpreises drastisch zurückgegangen.
Dieses System ist der Nährboden für die Entstehung eines nahezu totalen Netzwerks von Korruption: Die Importe laufen über wenige vom Staat lizensierte Agenten, die die Preise fast nach Gutdünken festsetzen können. Meist werden die Importe durch kurzfristige Kredite (Laufzeit meist drei bis sechs Monate) zwischenfinanziert. Für die Vermittlung dieser hochverzinslichen Kredite kassieren (halb-)staatliche Akteure horrende Gebühren. Die Vergabe von Großprojekten insbesondere in der Erdöl- und Erdgasförderung, der Bau von Pipelines und Raffinerien an ausländische Konzerne sind gleichfalls durch die Zahlung gewaltiger Schmiergelder gekennzeichnet, ebenso der Bau von Großprojekten wie Autobahnen und der projektierten U-Bahn in Algier. Eine gewaltige Einnahmequelle stellt der Kauf von Rüstungsgütern, da die Lieferanten den Bestellern in der Regel den Systempreis als „Kommissionen“ zukommen lassen, der dann vom Abnehmer mitbezahlt wird. Allein 2018 lieferte die Bundesrepublik Deutschland an Algerien Waffen im Umfang von mehr als 802 Mio. Euro. Dieses System bewirkt, dass die Armee teils direkt, teils über wichtige, mit den hohen Militärs verbundene Familien in dieses System eingewoben ist. So wahrt sich das System zugleich seine Undurchsichtigkeit.
Soziale Probleme sorgen für explosive Stimmung
Dieses ökonomisch wie politisch blockierte System produziert gewaltige soziale Probleme. Von den derzeit mehr als 42 Mio. Einwohnern sind nach offiziellen Angaben 11 Prozent arbeitslos, in Wirklichkeit dürften es mindestens 17 Prozent sein. Fast die Hälfte ist der Bevölkerung ist jünger als 20 Jahre. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 50 Prozent. Dasselbe gilt für die Zahl der arbeitslosen Hochschulabsolventen. Inwieweit Frauenarbeitslosigkeit überhaupt von der Statistik erfasst wird, ist schwer einzuschätzen, da Frauen sich in der Regel nicht arbeitslos melden. Landflucht und unkontrollierte Urbanisierung sind die Folge mangelnder Beschäftigungsmöglichkeiten, um die großen Städte entwickeln sich Slums mit Millionen Bewohnern. Die (illegale) und mit schweren Strafen belegte Flucht über das Mittelmeer hat schon vor drei Jahrzehnten begonnen und wächst weiter. Zentrales Problem ist die grassierende Wohnungsnot, da Kapital meist in Luxusvillen für die sich herausbildende Schicht von Reichen investiert wird oder als Kapitalanlage zur Vermietung von hochpreisigen Immobilien an Ausländer, wie Diplomaten oder Firmenvertreter.
Die angespannte soziale Lage hatte bereits im Oktober 1988 in der Folge eines Schülerstreiks zu einem landesweiten Aufruhr geführt, der von der Armee brutal beendet wurde. An der Jahreswende 1991/92 siegte die Islamische Heilsfront haushoch bei den Parlamentswahlen. Das Militär putschte, setzte den zuvor von ihm auf den Schild gehobenen Präsidenten Bendjedid ab, es folgte ein fast zehnjähriger Bürgerkrieg, der mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete. Auch während des „arabischen Frühlings“ kam es zu Massenprotesten, dank umfangreichster „Sicherheitsmaßnahmen“, wie die Einstellung des gesamten Bus- und Eisenbahnverkehrs um die Hauptstadt oder Aufbietung von mehr als 30.000 Sicherheitskräften, konnten größere Menschenansammlungen verhindert werden.
Vor diesem Hintergrund erklären sich die beeindruckenden Massenproteste gegen die Wiederwahl von Abdelaziz Bouteflika, die sich gegen die Person richteten, aber das System meinten. Millionen gingen auf die Straße, ihre Slogans waren eindeutig: Hinter dem Protest gegen eine weitere Wahl einer schwer kranken Marionette stand die Forderung nach einer grundlegenden Erneuerung, nach wahrer Demokratie nach der Schaffung einer 2. Republik. Was unsichtbar bleibt, sind die Kämpfe innerhalb der undurchsichtigen „Macht“. Die anhaltenden Proteste sind so gewaltig, dass offensichtlich die Machthaber zu uneins sind, um mit repressiver Gewalt gegen die Massen vorzugehen. Doch scheint es, dass auch seitens der Herrschenden der schon immer prekäre Konsens bröckelt, denn was die unterschiedlichen, sich in den Kulissen bekämpfenden Clans an der Macht zusammen hielt, war die Sicherung der gemeinsamen Pfründen.
Parteienpluralismus und die Armee als Stabilitätsfaktor
Das Groteske an der algerischen Situation ist, dass es in Algerien seit der nach den Oktober-Unruhen von 1988 an genommenen Verfassung von 1989 einen Parteienpluralismus gibt, der auch den Aufstieg der Islamistische Heilsfront ermöglichte, die in den Parlamentswahlen von 1991/92 die absolute Mehrheit erreicht hätte, wenn die Armee nicht geputscht hätte. Der Parteienpluralismus wurde auch in der (unter Bouteflika) neu erarbeiteten Verfassung von 1996 verankert. In den folgenden Wahlen blieb die ehemalige Staatspartei der Nationalen Befreiungsfront (FLN) stärkste parlamentarische Kraft. Doch sind alle Parteien, mit Ausnahme der Partei der Sozialistischen Kräfte (FFS) in das System eingebunden. Das Spektrum reicht von der islamistischen Partei für die Gesellschaft und den Frieden (MSP) bis zur trotzkistischen Partei der Arbeiter (PT) mit ihrer medienwirksamen Vorsitzenden Louisa Hanoun. Sie alle hatten Mühe, sich auf die Massenproteste einzustellen, erklärten aber – eine nach der anderen bis zur staatstragenden FLN – schließlich ihre Unterstützung für die Forderungen der Millionen Demonstranten. Damit war Bouteflika entscheidend geschwächt. Auch kennt Algerien eine durchaus pluralistische Presse, der allerdings nachgesagt wird, dass diese Medien mehr oder weniger die Interessen einzelner Clans innerhalb des Systems vertreten. Die Zeitungen und vor allem verschiedene Online-Plattformen haben sich relativ frühzeitig auf die Seite der Demonstranten gestellt.
So bleibt in diesem undurchsichtigen, im Kern labilen System die Armee die einzige strukturierte Kraft. Die in der derzeitigen Situation entscheidende Frage ist: Ist sie so monolithisch, wie militärische Strukturen zu sein pflegen? Schon während des grauenvollen Bürgerkriegs der 90er Jahre waren mehrere hohe Offiziere desertiert, weil sie das Regime bezichtigten in bester Tradition des counter-insurgency islamistische Banden zu instrumentalisieren, um abscheuliche Massaker an der Zivilbevölkerung zu begehen mit dem Ziel, die Islamisten zu delegitimieren. Orchestriert wurden diese Aktionen vom Chef des militärischen Geheimdienstes DRS, General Mohamed Mediéne, genannt Tawfiq. Dieser Geheimdienst soll auch Dossiers über die Korruption führender Militärs und anderer Größen des Systems angelegt haben. 2015 wurde Mediéne von Bouteflika abgesetzt, der DRS ausgelöst, seine Abteilungen dem Oberkommandierenden der Armee Gaid Salah unterstellt, der fast bis zum Schluss unerschütterlich Bouteflika unterstützte und erst Ende März forderte, dass, im Einklang mit der Verfassung, ein Amtsenthebungsverfahren aus gesundheitlichen Gründen gegen den amtierenden Präsidenten eingeleitet werden solle. Für viele Kommentatoren war dies eine Botschaft, die den Erhalt des Systems ohne Bouteflia retten sollte.
Ende Januar 2019, lange vor den Massendemonstrationen waren 13 führende Offiziere verhaftet worden. Offensichtlich gärte es auch in der Armee aufgrund der Kandidatur Bouteflikas für eine fünfte Amtszeit. Das Organ der Armee, el djeich, veröffentlichte Ende Februar einen sehr ambivalenten Leitartikel über die Verantwortung der Armee gegenüber dem Volkswillen. Als die großen Massendemonstrationen begannen, schoss die Armee nicht (wie 1988), die Demonstranten riefen in Sprechchören el djeich, esh-shaab – khawa, khawa: die Armee und das Volk sind Brüder!
Am 1. April dieses Jahres hatte Bouteflika erklärt, dass er vor dem 28. April, dem Ende seines Mandats, zurücktreten werde. Von seiner vorigen Ankündigung, er wolle eine Übergangsregierung bilden, die die Geschäfte bis zu einer späteren Präsidentenwahl führen solle, war nicht mehr die Rede. Mittlerweise hat die algerische Justiz Verfahren wegen Korruption und Devisenvergehen eingeleitet, der algerische Luftraum wurde für Privatflüge innerhalb des Landes und ins Ausland geschlossen, die beiden Brüder von Bouteflika unter Hausarrest gestellt, 150 Personen wurden mit einem Ausreiseverbot belegt. Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbandes wurde bei der Ausreise nach Tunesien verhaftet. All dies kann nur die Armee – oder formal zivile Behörden, die ihr nachgeordnet sind. Die Armee als Retterin des Volkswillens und der Demokratie? Das wäre ein Unikat in der algerischen Geschichte.
Dr. phil. Werner Ruf ist Politologe, Friedensforscher und Mitglied der AG Friedensforschung an der Universität Kassel sowie Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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