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Salam Ali

Neue Regierung – schwere Krise

imago images / Xinhua

Erst nach mehrwöchigem Taktieren der politischen Machtblöcke sowie dem inoffiziellen amerikanisch-iranischen Konsens, wurde die neue irakische Regierung unter Mustafa al-Kadhimi am 7. Mai vom irakischen Parlament gebilligt. Nun steht sie vor enormen politischen Herausforderungen, die durch die aktuelle, Corona-bedingte Wirtschafts- und Gesundheitskrise verschärft wird. Erschwerend kommen ausländische Interventionen, allen voran die militärische Aggression der Türkei gegen die Region Kurdistan im Nordirak hinzu.

Nachdem Ministerpräsident Adel Abdul-Mahdi Anfang des Jahres seinen Rücktritt hatte verkünden müssen - Sicherheitskräfte hatten in der Stadt Naseriyah im Süden des Landes dutzende junge Demonstranten regelrecht massakriert - währte die Bildung der neuen Regierung mehr als fünf Monate.

Die hartnäckige Weigerung der herrschenden Blöcke, den Forderungen der seit einem knappen Jahr andauernden Volksproteste nachzukommen, verstetigt die politische Sackgasse. Die Corona-Pandemie sowie eine beispiellose Wirtschaftskrise, die durch den starken Rückgang der Ölpreise verursacht wird, verschärften die Lage. Betroffen sind vor allem die armen und einkommensschwachen Schichten der Gesellschaft. Die Ressentiments der Bevölkerung gegenüber ihren Eliten wachsen. Als ob das nicht Herausforderungen genug wären, intensivierten sich in jüngster Zeit die Angriffe des IS auf Sicherheitskräfte nördlich von Bagdad.

Türkische Aggression und Anti-Terror-Kampf

Am 14. Juni startete außerdem die türkische Armee wieder einmal eine militärische Operation auf irakischem Boden, wodurch sie erneut die Souveränität Iraks missachtet. Die türkische Luftwaffe flog Angriffe mehrere Hundert Kilometer tief über irakischem Territorium, darunter gegen Flüchtlingslager in der Provinz Erbil und in Sindschar. Ihr Vorwand: Der Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Die Kommunistische Partei Iraks (KPI) verurteilt diese neue, unverhohlene türkische Aggression und die Verletzung des Völkerrechts scharf. Sie rief sowohl die irakische Regierung als auch die Regionalregierung Kurdistans dazu auf, diese Verletzung der nationalen Souveränität Iraks zu verurteilen sowie den Abzug türkischer Truppen zu fordern. Gleichzeitig mit den türkischen Truppen drangen auch iranische Streitkräfte in Gebiete innerhalb der Region Kurdistan ein.

Nach Meinung der KPI, die die Präsenz ausländischer Militärs vehement ablehnt, muss ein nationaler politischer Konsens aufgebaut und die nationale Einheit gestärkt werden, um jede fremde Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes zu beenden.

Dafür müssten einserseits die irakischen Streitkräfte gestärkt, von korrupten Elementen befreit und ihre Treue zu Land und Volk gewährleistet werden, so wie es auch die neue Regierung ankündigte. Diese Maßnahmen müssten die Auflösung bewaffneter Formationen einschließen, die illegal und außerhalb der zuständigen staatlichen Institutionen operieren.

Andererseits ist ein umfassender Ansatz notwendig, der eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Maßnahmen bündelt. Denn trotz des militärischen Sieges über den IS, ist der Kampf gegen den Terrorismus nicht beendet. In den letzten Monaten kam es in einigen Gebieten erneut zu Angriffen von Resten des IS. Das beweist, dass militärisches Vorgehen nicht ausreicht, um den IS endgültig zu besiegen.

Corona-Pandemie verschärft die Krise im Gesundheitssektor

Die Corona-Pandemie trift, wie überall in der Welt, auch im Irak die Armen am härtesten. Sie machen rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus. Die Zahlen der Neuerkrankungen und Todesfälle steigen aktuell stark. Die Zahl der bestätigten Fälle betrug am 27.  Juni 2020 43.262. Bis zu diesem Datum gab es 1.660 Todesopfer. 19.938 Menschen haben sich hingegen von der Krankheit erholt.

Es ist zweifelhaft, ob die offiziellen Zahlen ein realistisches Bild der Lage widergeben. Sie basieren auf einer relativ geringen Anzahl von Tests. Knapp eine halbe Million Menschen von insgesamt über 40 Millionen wurden bisher getestet.

Die Pandemie macht, wie in vielen anderen Staaten auch, den bedauerlichen Zustand des irakischen Gesundheitssektors offenkundig. Die katastrophalen Folgen schlechter Finanzierung und erfolgloser Privatisierungsversuche treten nun deutlich hervor. Es fehlt an persönlichen Schutzausrüstungen, Beatmungsgeräten und Test-Kits. Die medizinisch sinnvolle Ausgangssperre beraubt die einkommensschwachen Schichten ihrer ohnehin mageren Tageseinnahmen.

Dennoch sind die Irakerinnen und Iraker voll des Lobes für die heldenhaften Bemühungen ihres Gesundheitspersonals. Bei allem Unglück, animieren die Herausforderungen der Pandemie zu einer beispiellosen gesellschaftlichen Solidarität.

Die KPI startete eine Kampagne, um den armen und einkommensschwachen Familien Lebensmittelpakete zur Verfügung zu stellen. Sie wurde begleitet durch Bemühungen zur Sensibilisierung für die öffentliche Gesundheit und Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie. Junge Männer und Frauen, die meisten von ihnen seit knapp einem Jahr an den Volksprotesten beteiligt, stehen an vorderster Front dieser Kampagne.

Das Zentralkomitee der IKP forderte die Regierung auf, die Beschäftigten im Gesundheitswesen mit allen notwendigen Geräten und angemessener Pflege und Schutz zu versorgen.

Die Lösung: ein Zivilstaat und soziale Gerechtigkeit

Die Bildung der Al-Kadhimi-Regierung fusst auf dem Gleichgewicht der politischen Kräfte, dem Festhalten der herrschenden Blöcke am Quotensystem, das auf Interessen religiöser Sekten und verschiedenen Ethnien basiert, und die Einmischung fremder Staaten in die inneren Angelegenheiten des Irak. Zudem erschwerte den Regierungsbildungsprozess.

Dieser Prozess spiegelte jedoch auch die neuen politischen Realitäten wider, die seit vergangenem Oktober durch den mutigen Volksaufstand geschaffen wurden. Al-Kadhimi, der neue Ministerpräsident, bestätigt in seinem Regierungsprogramm, dass er eine Übergangsregierung führt. Bei seiner Rede vor dem Parlament, nannte er eine Reihe wichtiger Punkte, die zu den Hauptforderungen der Aufständischen gehören.

Die KPI hatte diese dringenden Forderungen bereits kurz nach dem Ausbruch des Volksaufstandes im vergangenen Oktober formuliert. Diese wurden nach Ausbruch der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise erweitert.

Es handelt sich um folgende Punkte:

- die Corona-Pandemie und ihre Folgen müssen bekämpft werden;

- das Leiden der Menschen, insbesondere der armen und einkommensschwachen Schichten der Gesellschaft, muss gemildert werden;

- IS und andere terroristischen Gruppen sind zu bekämpfen;

- unter wirksamer Aufsicht der Vereinten Nationen und auf der Grundlage eines gerechten Wahlsystems sollen vorgezogene Wahlen abgehalten werden;

- die Verantwortlichen der Ermordung der friedlichen Demonstranten müssen zur Rechenschaft gezogen werden;

- wirksame Anti-Korruptions-Maßnahmen müssen beschlossen werden;

- außerdem: Probleme der Binnenvertriebenen gelöst, das Schicksal der verschwundenen Personen aufgeklärt und die vom IS befreiten Gebiete wiederaufgebaut werden;

- der tiefe Staat muss demontiert und die Milizen sowie illegale bewaffnete Elemente aufgelöst werden;

- eine alternative Wirtschaftspolitik, die zu einer nachhaltigen Entwicklung führt, muss angenommen, die Rentierwirtschaft beendet, die Wirtschaft diversifiziert und produktive Sektoren wiederbelebt werden

Und:

- die Souveränität Iraks muss geschützt, jegliche Einmischung von fremden Mächten gestoppt werden.

Keine der Forderungen Al-Kadhimis läßt sich ohne den Druck der Bevölkerung erreichen. Doch Ende Juli gingen Sicherheitskräfte erneut mit scharfer Munition gegen friedliche Demonstranten auf dem Bagdader Tahrir-Platz vor. Zwei Menschen sind gestorben. Ein solch blutiges und repressives Vorgehen kann das Land keinesfalls aus der tiefen Krise befreien. Im Gegenteil: Wut und Unzufriedenheit wachsen.

Die Al-Kadhimi--Regierung wird danach beurteilt werden, was sie am Ende tatsächlich erreichen kann. Die irakischen Kommunisten jedenfalls werden an den Forderungen der friedlichen Protestbewegung festhalten und den Druck der Bevölkerung aufrechthalten, bis das Quotensystem abgeschafft und die Alternative etabliert ist: ein demokratischer und sozial gerechter Zivilstaat.


Salam Ali ist Mitglied des Zentralkomitees der KP Iraks und verantwortlich für internationale Beziehungen.


 

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