Der Hahnenkampf
Der Triumph währte nicht lange. Obwohl das rechte Lager im April 2019 die absolute Mehrheit erobert hatte, konnte Wahlsieger Premierminister Benjamin Netanjahu keine Regierungskoalition bilden. In der entstandenen Pattsituation löste sich die Knesset auf. Doch vermutlich werden sich die Kräfteverhältnisse zwischen dem Netanjahu-treuen Lager und der Opposition auch bei den Wahlen am 17. September nicht grundlegend verschieben. So könnten nach den Wahlen Verhandlungsgeschick und Nervenstärke den Ausschlag bei der Bildung einer Regierungskoalition geben.
Machos unter sich
Haupthindernis auf dem Weg Netanjahus zu einer fünften Amtszeit war Avigdor Lieberman, Netanjahus ehemaliger Büroleiter und Likud-Generalsekretär, heute Vorsitzender der säkular-nationalistischen Partei Unser Zuhause Israel.
Obwohl er im rechten Lager fest verankert ist, weigerte sich Lieberman, in eine von Netanjahu geführte Regierung einzutreten, mit der Begründung, in einer Koalition mit knapper Mehrheit würden die ultraorthodoxen Parteien eine zu gewichtige Rolle spielen. Er forderte stattdessen eine Große Koalition aus Likud und der wichtigsten Oppositionsliste. Doch Blau-Weiß, eine aus drei neuen Parteien bestehende Liste, weigerte sich mit dem Likud zu koalieren, solange Netanjahu die Partei führt, dem Bestechlichkeit, Betrug, Untreue und obendrein illegale Einflussnahme auf zwei führende israelische Nachrichtenportale vorgeworfen wird.
Liebermans Begründung, den politischen Einfluss der ultraorthodoxen Parteien nicht wachsen lassen zu wollen, ist allerdings fadenscheinig. Recht häufig ist er mit ihnen ausgezeichnet ausgekommen. Der wahre Grund ist ein Machtkampf, bei dem sich Lieberman an Netanjahu rächt und sich als sein Nachfolger präsentiert.
Bei diesen Wahlen verblassen inhaltliche Auseinandersetzungen zugunsten der Frage nach der bevorzugten Führungsperson. Gegen die alten Haudegen Netanjahu und Lieberman setzt auch die Opposition auf erfahrene Krieger – im wahrsten Sinne des Wortes. Blau-Weiß kann zwar keinen charismatischen Vorsitzenden vorweisen. Dafür hat die Liste an ihrer Spitze gleich drei ehemalige Generalstabschefs der israelischen Armee. Auch die linke Meretz fürchtete, an der 3,25-Prozent-Hürde zu scheitern, und tat sich mit dem ehemaligen Premier der Arbeitspartei und Generalstabschef Ehud Barak zusammen.
Alternativlosigkeit als Krisenursache
Dass die Parteien auf starke Männer setzen, ist dem Mangel an alternativen Entwürfen in den wichtigsten Feldern israelischer Politik geschuldet. Früher als in anderen Ländern befürwortete die stärkste Kraft der israelischen Linken, die sozialdemokratische Arbeitspartei, in den 1980er-Jahren die neoliberale Ideologie als alternativlose Wirtschaftspolitik und war ausschlaggebend für die Privatisierungs- und Niedrigsteuerpolitik ebenso wie für die Zerschlagung der Gewerkschaftsmacht. Und seitdem ihr damaliger Parteivorsitzender Ehud Barak im Jahr 2000 als Premierminister der israelischen Öffentlichkeit verkündete, es gebe keinen Partner für Frieden auf palästinensischer Seite, hat die Partei auch keine Friedenspolitik mehr, die den Namen verdient.
In Ermangelung von inhaltlichen Alternativen rücken zwei Fragen immer stärker in den Mittelpunkt: Wer ist aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften am geeignetsten, das Land zu führen, und welche Gruppe erhält welchen Anteil vom Kuchen? Das Fehlen konkurrierender Zukunftsvisionen befördert das Desinteresse an Politik und zugleich die Bejahung der gegenwärtigen Zustände, die wiederum systemstabilisierend wirken.
Gleichzeitig bleibt nichts beim Alten. Abnehmende Solidarität in Zeiten einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die schwelende nationale Konflikt und die inhärenten Fragilität eines Einwanderungslandes führt dazu, dass die Volkszugehörigkeit als Ort echter und vorgestellter Solidarität enorm an Bedeutung gewinnt. Für die jüdische Mehrheitsgesellschaft Israels ist dieses Volk das jüdische Volk. Im aktuellen israelischen Diskurs ist es selbstverständlich, Vorteile der jüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Nichtjuden und auf deren Kosten zu bewahren und auszubauen. Das gilt auf jeden Fall für das 2018 beschlossene Nationalstaatsgesetz, das jüdische Gruppeninteressen über das Gleichheitsgebot der Demokratie stellt. Aber auch für die von der Bevölkerungsmehrheit unterstützten Versuche des Staates, alle nichtjüdische, vor allem die aus der Subsahara stammende Geflüchtete des Landes zu verweisen und nichtjüdischen Arbeitsmigrant*innen das dauerhafte Niederlassungsrecht oder die Einbürgerung grundsätzlich zu verwehren.
Der Rechtspopulist Netanjahu und seine nationalreligiöse Alliierte
Niemand verstand es besser als Netanjahu, diesen Rückfall in die Stammesidentität auszunutzen und sich als Retter des jüdischen Volkes zu gerieren. Sein Aufstieg zur unangefochtenen Führungsfigur des Landes ist eng verbunden mit der Instrumentalisierung von realen und imaginierten äußeren und inneren Gegnern Israels. Zu diesen zählten zunächst die Palästinenser*innen und der Iran sowie der Unterzeichner der Oslo-Verträge, Jitzchak Rabin, das Friedenslager insgesamt und „die Linke“ im Allgemeinen. In den vergangenen Jahren gerieten auch nichtjüdische Geflüchtete und Migrant*innen ins Visier Netanjahus, zuletzt in wachsendem Maße Kritiker*innen seiner Politik im westlichen Ausland, denen er Israel-Feindschaft oder gar Antisemitismus vorwirft.
Ob Netanjahu bei den kommenden Wahlen Erfolg haben wird, hängt davon ab, ob das rechte Lager auch ohne Liebermans Partei eine Mehrheit erhält. Derzeit liegt es Umfragen zufolge knapp unter der absoluten Mehrheit. Neben dem Likud, der bei geringen Einbußen mit etwa einem Viertel der Stimmen rechnen kann, gehören drei religiöse Parteien zu diesem Lager, darunter die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereintes Thora-Judentum, die früher das Zünglein an der Waage zwischen Likud und der Arbeitspartei darstellten. Sie holten möglichst viel für ihre oft armen und kinderreichen Klientel heraus, hielten sich ansonsten aber aus der Politik heraus. Heute sind ihre Wähler*innen fest im nationalistischen Lager verankert. Der dritte potenzielle Koalitionspartner ist die Liste Nach Rechts, eine Vereinigung mehrerer rechtsradikaler Parteien, die mit etwa zehn Prozent der Stimmen rechnen kann.
Bemerkenswert hierbei ist die fortschreitende Verzahnung der ultraorthodoxen und der nationalistischen Milieus.
Blau-Weiß: die Herausforderin
Aufgeschreckt durch die ständige Hetze gegen den Rechtsstaat und die „Eliten“ sowie durch die wachsende Macht der religiösen Parteien hat sich vor den letzten Wahlen Blau-Weiß konstituiert. Mit vier Generälen, einer Generalin sowie mehreren gewichtigen Vertreter*innen aus Verwaltung und Medien repräsentiert die Liste das israelische Establishment. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Gegnerschaft zu Netanjahu. Sie stehen zum Rechtsstaat und seine Institutionen, wollen die Korruption bekämpfen, die Meinungsfreiheit stärken und eine weitere Verzahnung von Staat und Religion verhindern. In anderen Bereichen unterscheidet sich Blau-Weiß nicht wesentlich vom Likud. Auch sie nutzen Netanjahus geflügeltes Wort, Israel müsse „ewig mit dem Schwert leben“, und sprechen nicht von einer Zweistaatenlösung, sondern versprechen, sich nicht aus dem Jordantal und Ostjerusalem zurückzuziehen, was de facto eine Absage an einen lebensfähigen Palästinenserstaat darstellt. Die Liste brüstet sich auch damit im Gazastreifen noch härter vorgehen zu wollen, als es Netanjahu tut. Auch die gegenwärtige Sozial- und Wirtschaftspolitik wird nicht grundsätzlich infrage gestellt. Den Umfragen nach würde Blau-Weiß erneut etwa ein Viertel der Stimmen auf sich vereinen.
Links der Mitte I: die Arbeitspartei und Gescher
Während bei den anderen Parteien vieles gleich geblieben ist, hat es links von der Mitte große Veränderungen gegeben. Drei Listen stellen sich hier zur Wahl, jeweils anders ausgerichtet als bei den letzten Wahlen.
Die einst so stolze Arbeitspartei, die Israels Politik von der Staatsgründung bis 1977 durchgehend dominierte und auch später gelegentlich den Premier stellte, erhielt bei den letzten Wahlen knapp fünf Prozent der Stimmen - ein historisches Tief. Im anschließenden Richtungsstreit setzte sich der ehemalige Patteivorsitzende Amir Peretz durch.
Zur Wahl stellt sich die Arbeitspartei zusammen mit Gescher (hebr.: Brücke), die sich vom rechten Lager aufgrund starker Divergenzen im sozioökonomischen Bereich abgespalten hat. Das Wahlprogramm der Liste ist geradezu revolutionär für die Arbeitspartei und zielt auf einen radikalen Richtungswechsel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Durch eine höhere staatliche Verschuldung und eine höhere Besteuerung der Wohlhabenden sollen Investitionen in die Infrastruktur getätigt, der Mindestlohn erhöht, die Invaliden- und Rentenbezüge angehoben und die Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdienste wieder völlig aus Steuereinnahmen finanziert werden. Im Bezug auf das Verhältnis zur palästinensischen Minderheit in Israel oder Friedensfragen bleibt die Liste vage, sieht jedoch einen Investitionsstopp für Siedlungen in der Westbank jenseits der großen Siedlungsblöcke vor.
Ob die Wähler*innen sich von einer so kurz vor den Wahlen erklärten Rückkehr zu den Grundsätzen linker sozialdemokratischer Politik überzeugen lassen, scheint fraglich.
Links der Mitte II: Meretz und das Demokratische Lager
Für einen umgekehrten Kurs hat sich Meretz entschieden. Sie nennt sich nach wie vor stolz eine linke Partei, tritt für einen historischen Kompromiss mit den Palästinenser*innen ein und steht für sozialdemokratische bis sozialistische Wirtschaftspositionen sowie eine progressive Geschlechter-, Verkehrs- und Umweltpolitik. Meretz hat sich mit dem ehemaligen Premier Ehud Barak zum Demokratischen Lager zusammengeschlossen. Baraks Anliegen ist die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Wie Meretz plädiert er für eine Zweistaatenlösung. Andererseits ist Barak bei der arabisch-palästinensischen Minderheit in Israel umstritten, wenn nicht gar verhasst, weil er im Oktober 2000 die blutige Unterdrückung von Protesten in den arabischen Städten im Norden Israels zu verantworten hatte.
Meretz stärkt durch das Bündnis mit Barak ihren Ruf als Partei des schwindenden europastämmigen Bildungsbürgertums, gefährdet aber gleichzeitig ihren Erfolg bei der palästinensischen Minderheit, der ihr bei den letzten Wahlen ein Viertel ihrer Gesamtstimmen bescherte. Andererseits könnte sie diejenigen Stimmen aus der Arbeitspartei holen, die den neuen Kurs der Partei nicht mittragen wollen.
Links der Mitte III: die Gemeinsame Liste
Die 2015 gegründete Gemeinsame Liste galt als große Hoffnung der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. Im Vorfeld der Wahlen im April 2019 zerbrach sie an persönlichen Querelen. Aus einer gemeinsamen Liste wurden zwei, die zusammen lediglich zehn Mandate erhielten.
Nun entstand die Gemeinsame Liste erneut. Diesmal als Zusammenschluss von vier unterschiedlichen Parteien, die die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel vertreten. Die Liste versammelt sehr unterschiedliche politische Positionen, von sozialistischen über liberale bis zu islamisch-konservativen. Vor allem der sozialistischen Demokratische Front für Frieden und Gleichheit verdankt das Bündniss sein Programm, das nicht nur die Interessen der palästinensischen Minderheit in Israel berücksichtigt, sondern eine progressive Vision beinhaltet.
Ob die Gemeinsame Liste ihren Erfolg von 2015 wiederholen kann, ist fraglich, denn die persönlichen Streitereien des Führungspersonals Anfang des Jahres haben zu einer Politikverdrossenheit vor allem unter jungen Wähler*innen geführt. Wenn sich jenseits von Meretz keine Partei findet, die sie als Verbündete wahrnimmt, so wird es zunehmend schwer zu vermitteln sein, warum die palästinensischen Staatsbürger*innen Israels überhaupt an Wahlen teilnehmen sollten.
Doch obwohl sich der Vorsitzende der Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, bereit erklärt hat, sich einer Mitte-links-Koalition anzuschließen, stieß dieses historische Koalitionsangebot umgehend auf Ablehnung: Blau-Weiß wies jede Zusammenarbeit mit der Gemeinsamen Liste zurück, der Likud warnte sogar vor der Gefahr einer von Terroristen unterstützten Regierung.
Aussichten
Die Schlüsselfrage dieser Wahlen lautet, ob Benjamin Netanjahu noch auf dem Zenit seiner Macht ist oder ob sie das Ende seiner rechtspopulistischen Ära bringen werden. Am wahrscheinlichsten ist eine erneute Pattsituation. Netanjahu wird möglicherweise die instabilen Listen Blau-Weiß und Arbeitspartei-Gescher bzw. einzelne Abgeordnete dieser Listen durch inhaltliche Zugeständnisse oder mittels Posten ködern wollen. Blau-Weiß und Lieberman werden im Gegenzug versuchen, den Likud gegen den bewunderten und gefürchteten, aber kaum geliebten Netanjahu aufzuwiegeln.
Wie auch immer die Wahl ausgeht, so ist friedenspolitisch kaum mit positiven Veränderungen zu rechnen, denn gut 80 Prozent der Stimmen werden Parteien zukommen, die sich gegen die Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaats und damit einer Zweistaatenlösung stellen.
Ausschlaggebend könnte die Wahl jedoch in Sachen Rechtsstaatlichkeit sein. Gewinnt das rechte Lager, so ist mit einem weiteren Abbau der Demokratie zu rechnen. Verliert das rechte Lager oder benötigt es einen Koalitionspartner aus dem bisherigen Oppositionslager, so könnten diese Prozesse gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden. Insgesamt gilt aber auch dann die alte Feststellung, dass ein Land kaum demokratisch verfasst sein kann, wenn es gleichzeitig auf Dauer einem anderen Volk systematisch die Selbstbestimmung verweigert und damit Millionen von Menschen Bürger- und Menschenrechte vorenthält.
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