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Nadja Dorschner

David gegen Goliath

Snehasish Bodhak / / imago images / Pacific Press Agency

Seit Ende November 2020 demonstrieren in Indien hunderttausende Bäuer*innen gegen drei Gesetze zur Deregulierung des Landwirtschaftssektors, die im September 2020 verabschiedet wurden und die Kleinbäuer*innen dem Weltmarkt machtlos ausliefert. Das Zentrum der Proteste liegt an den Rändern der Hauptstadt Neu-Delhi, wo die Bäuer*innen mit tatkräftiger Unterstützung aus weiten Teilen der Zivilgesellschaft kilometerlange Protestcamps einrichten konnten und seitdem wichtige Zufahrtsstraßen blockieren. Die Bäuer*innen sind aus den umliegenden Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh angereist und entschlossen zu bleiben, bis die Regierung der hindunationalistischen indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) um Premierminister Narendra Modi die Gesetze zurücknimmt.

Ausgehend von Neu-Delhi haben sich die Proteste auf das ganze Land ausgebreitet und bereits verschiedene Höhepunkte erlebt.  Schlagzeilen machten in den letzten Wochen vor allem die gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den Sicherheitskräften am Tag der Republik am 26. Januar.

International bekamen die Proteste neue Aufmerksamkeit, nachdem prominente Persönlichkeiten wie Pop-Sängerin Rihanna und die „Fridays for Future“-Aktivistin Greta Thunberg auf Twitter zur Unterstützung der Bäuer*innen aufriefen. Das indische Außenministerium sah sich genötigt auf die Solidaritätsbekundungen aus dem Ausland mit der Mahnung zu reagieren, sich nicht in interne indische Angelegenheiten einzumischen. Die indische „Fridays For Future“-Aktivistin Disha Ravi, die Greta Thunberg Informationen über die Proteste in Indien zukommen lassen haben soll, wurde verhaftet und muss sich vor Gericht wegen Aufruhr und Anstiftung zu internationaler Verschwörung gegen die nationale Einheit Indiens verantworten. 

Die Proteste als nationale Angelegenheit zu betrachten, ist allerdings in vielerlei Hinsicht eine verkürzte Darstellung. Die Bäuer*innen befürchten, dass die neuen Landwirtschaftsgesetze eine Aufhebung der Mindestpreisgarantien bedeuten, die es momentan noch in vielen indischen Bundesstaaten gibt und vielen Landwirt*innen eine Existenzgrundlage bieten. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) beziehen in Indien fast 70 Prozent der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft. Für sie soll mittels der neuen Gesetze der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen außerhalb der staatlich regulierten Märkte, den sogenannten Mandis, erleichtert werden.

Die Liberalisierung der Märkte soll das Exportpotenzial der indischen Landwirtschaft freisetzen und die Einkommen der Bäuer*innen steigern. Umgekehrt hat das zur Folge, dass privatwirtschaftliche Akteure direkt mit den Bäuer*innen Verträge über zu produzierende Mengen und abzuliefernde Qualität abschließen können. Besonders für Kleinbäuer*innen, die 82 Prozent der landwirtschaftlich Produzierenden in Indien ausmachen, ist zu erwarten, dass sie in Preisverhandlungen mit Konzernriesen des Agrarhandels und der Ernährungsindustrie eine benachteiligte Verhandlungsposition haben werden. Außerdem lockern die Reformen die Vorschriften für die Einlagerung von Grundnahrungsmitteln, die bisher nur staatlich autorisierten Zwischenhändler*innen erlaubt war. Durch die Zurückhaltung großer Mengen können Agrarunternehmen die Preise manipulieren und beispielsweise während der Erntezeit die Preise drücken, zu denen sie den Bäuer*innen ihre Erzeugnisse abkaufen. 

Im Rahmen der Proteste hat sich ein Bündnis aus über 500 Organisationen zusammengeschlossen. Gewerkschaften und Bauernverbände kritisieren, dass die Gesetze ohne vorherige Konsultation von Betroffenen verabschiedet wurden und Oppositionsparteien sahen parlamentarische Prozeduren, wie die Einberufung von Beratungskommitees, außer Kraft gesetzt.

Dass die krisengebeutelte indische Landwirtschaft Reformen bedarf, leugnen auch sie nicht. Was es bräuchte wären Reformen, die den Bäuer*innen stabile Einkommen sichern und die landwirtschaftliche Produktion diversifizieren, um Biodiversität wiederherzustellen und von monokulturellem Anbau gebeutelte Böden zu regenerieren. Dafür brauchen die Kleinbäuer*innen finanzielle Anreize, die von staatlicher Seite reguliert werden müssten. Von einer stärkeren Einbindung in von wenigen Konzernen dominierte globale Agrarlieferketten und privatwirtschaftlich gesteuerten Modellen der Vertragswirtschaft sind diese Anreize allerdings nicht zu erwarten.


Nadja Dorschner ist Referentin für Ost-, Süd- und Südostasien in der Rosa Luxemburg Stiftung


 

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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.