Das Comeback der chilenischen Linken
Die Einmaligkeit dieses Prozesses wurde vor allem durch das politisch-historische Projekt zwischen der Sozialistischen Partei und den Christdemokrat:innen geformt. Das Bündnis etablierte eine "Politik der Vereinbarungen" mit der politischen Rechten, darunter die Partei der Nationalen Erneuerung und die Unabhängige Demokratische Union. Gleichzeitig förderte das Bündnis neoliberale Reformen, durch die Wirtschaftsmächte zunehmenden Einfluss in der Politik erhielten, ja die Politik durch sie kolonisiert worden ist.
Diese alte Ordnung der chilenischen Übergangspolitik wackelt nun schon seit einigen Jahren. Und die Wahl vom vergangenen Wochenende versetzte ihr einen weiteren schweren Schlag. Es gibt Anlass zum Optimismus. Es besteht die Hoffnung, dass der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre endlich ein Ende gesetzt wird.
Alte Ordnung besiegt
Die Chilen:innen konnten an diesem Wahlwochenende gleich viermal ihre Stimmen abgeben, es fanden zeitglich Bürgermeister:innen-, Kommunal- und Regionalwahlen statt, außerdem wurden die Delegierten für die Verfassungsgebende Versammlung gewählt - die wichtigste Wahl an diesem Tag, denn diese Versammlung wird den Entwurf für eine neue Verfassung erarbeiten und dafür ist ihre Zusammensetzung entscheidend.
Es ist wichtig die Ergebnisse im Kontext des jüngsten Wahlzyklus zu analysieren. Dieser Zyklus begann mit dem Referendum am 25. Oktober 2020 und endet mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende 2021. Es ist zwar noch ein langer Weg bis dahin, aber eine Verschiebung der politischen Tendenzen und Wahlpräferenzen der Chilenen zeichnet sich bereits ab. Dabei sollte die sehr niedrige Wahlbeteiligung von circa 43 Prozent nicht vergessen werden.
Noch nie haben seit dem Ende der Diktatur so viele mehr Menschen links gewählt, als rechts oder für die Mitte, wie bei dieser Stimmabgabe für die Verfassungsgebende Versammlung. Außerdem stimmten die Menschen im Vergleich zu früheren Wahlen häufiger für lokale Organisationen, mehr für unabhängige Kandidat:innen, die keiner politischen Partei angehören und insgesamt weniger für traditionelle Parteien.
Die linke Liste „Apruebo Dignidad“ ein Bündnis aus der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei gewann 19 Prozent der Stimmen und wurde die zweitstärkste Kraft. Außerdem konnte „La Lista del Pueblo“, ein Netzwerk aus linken Kandidat:innen und lokalen Organisationen, 16 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Zentrale Forderungen der Linken sind ein Sozialstaat, der soziale Rechte garantiert (Wohnen, Gesundheit, Bildung etc.), die Entkommerzialisierung und der Schutz natürlicher Ressourcen, wie Wasser.
Außerdem wird eine feministische Verfassung, mehr Demokratie -zum Beispiel durch die Dezentralisierung des Staates- und eine Veränderung der Beziehung zwischen Indigenen und dem chilenischen Staat gefordert, mit mehr Autonomie für die Indigenen.
Trotz Differenzen haben linke Parteien, soziale Organisationen und Unabhängige zusammen etwa 35 Prozent der Stimmen gewonnen. So viel Rückhalt hatte die Linke seit dem Rückkehr zur Demokratie noch nie.
77 Frauen und 78 Männer werden den neuen Verfassungstext entwerfen. Die chilenische Verfassung wird die erste Verfassung der Welt sein, die von einem Verfassungskonvent mit Geschlechterparität ausgearbeitet wird. 17 der Delegierten sind Vertreter indigener Völker, sie bekommen zum ersten Mal die Möglichkeit aktiv über ihr Verhältnis zum chilenischen Staat und welche Beziehung sie zu ihm haben möchten, mitzuentscheiden.
Die Rechte erreichte nicht die 33 Prozent, die sie gebraucht hätte, um größere Veränderungen des neoliberalen Regimes zu blockieren. Außerdem wurde in vier wichtigen, eher traditionell rechten Gemeinden, wie Santiago, Maipú, Ñuñoa und Viña del Mar, das rechte Lager von der Linken, der Frente Amplio oder der Kommunistischen Partei besiegt.
Der Verfassungskonvent wird mehr als jedes andere Parlament die Vielfalt der chilenischen Gesellschaft widerspiegeln, das wir in dieser langen Periode der elitären Demokratie hatten. Auch wenn vieles noch offen ist: die alte Übergangsordnung, die durch einen Duopol zwischen der Rechten und der Mitte, einem neoliberalen Konsens und einem ausgeprägten elitären Charakter gekennzeichnet war, wurde besiegt oder zumindest geschwächt.
Der Tag danach.
Die Wahlen veränderten kurz vor der Deadline am 19. Mai zur Anmeldung von Kandidaturen und Listen für die Vorwahlen im Juli für die Präsidentschaftswahlen im November die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien und Bündnissen.
Eine für die politische Rechte wichtige Kandidatin, Evelyn Matthei, zog ihre Kandidatur zurück und Joaquín Lavín, ein anderer Kandidat, warnte die Regierung des gegenwärtigen Präsidenten Sebastián Piñera, sich aus seiner Kampagne herauszuhalten.
Insbesondere in der Mitte rumort es. Die Christdemokrat:inneen, die nur zwei Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung erhielten, befinden sich in einer tiefen Krise. Ihre Parteivorsitzende ist zurückgetreten und ihre Kandidatin zur Präsidentschaftswahl sagte ihre Kandidatur ab.
Die Sozialistische Partei, die als einzige innerhalb der politischen Mitte gut abschnitt, leidet ebenfalls unter den Folgen der politischen Neuordnung. Sie konnte weder mit den Christdemokrat:innen noch mit der Linken eine Einigung für eine gemeinsame Liste bei den Vorwahlen erzielen, sodass das politische Zentrum nicht an den Vorwahlen teilnehmen wird und am Ende ohne Kandidat:in dagestanden hätte.
Deshalb waren die Wahlen mehr als nur eine Verschiebung der Ergebnisse, sie waren ein politisches Erdbeben für jene herrschende Klasse, die sich an eine Demokratie ohne Gesellschaft gewöhnt hatte.
Die politische Linke
Die Frente Amplio und die KP stellten eine gemeinsame Liste für die Vorwahlen auf. Gabriel Boric – Mitglied der Convergenica Social tritt als Kandidat für die Frente Amplio an, Daniel Jadue ist der Kandidat der KP.
Ganz allgemein verläuft die Debatte innerhalb der Linken in diesem Prozess zwischen jenen, die meinen, dass , gegen die politische Mitte und die Rechten ein linker Pol aufgebaut werden muss. Die jüngsten Wahlergebnisse und die gegenwärtigen Veränderungen in der chilenischen Gesellschaft geben ihnen Rückenwind. Gegen dieses Vorgehen spricht die Gefahr eines Rückfalles in die alte Strategie der drei Drittel (1/3 rechts, 1/3 Zentrum, 1/3 Linke). Dadurch wäre das Zentrum in einer privilegierten Verhandlungsposition und für die Linke bestünde das Risiko eine links-identitäre Politik zu verfolgen und kein hegemoniales Projekt zu werden.
Auf der anderen Seite gibt es den Ansatz das Zentrum einzubinden und aus dessen Krise zu profitieren. Die Idee ist, Teile der politischen Mitte von den eigenen Positionen zu überzeugen und damit gleichzeitig zu verhindern, dass die Mitte wiederum ein eigener politischer Akteur wird. Dafür spricht die historische Niederlage der alten 3/3 Strategie, die Diversität der chilenischen Gesellschaft (die sich nicht mehrheitlich links versteht) und was es für den Aufbau eines hegemonialen Projektes braucht. Dagegen spricht, dass durch diese Strategie doch die alte Politik der Transformation am Leben gehalten werden könnte und jene Parteien der Mitte dadurch gerettet würden. Die Menschen könnten den Eindruck gewinnen, dass sich die Linke vom Zentrum eigentlich nicht unterscheidet.
Es bleibt wichtig zu betonen, dass in dem Verfassungsprozess über den zukünftigen Weg Chiles entschieden wird. Hier werden sich alle Akteure positionieren müssen.
Eine neue Verfassung
Der Verfassungsprozess wird einen neuen historischen politischen Zyklus eröffnen, auch wenn er nicht das Ende der emanzipatorischen Kämpfe bedeuten wird. Denn Chile wird sich nicht nur eine neue Verfassung geben, sondern die Chilen:innen werden die Politik selbst, ihre Ausrichtung und die Kräfteverhältnisse, des zukünftigen Chiles neu definieren.
Chile befindet sich in einem Zustand des Halbdunkels. „ Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren.“ Aber die alte Welt hat eine große Niederlage erfahren. Das Ergebnis dieser Wahlen gibt Hoffnung, dass ein neues Chile geboren wird.
Das Land steht vor vielen Herausforderungen, aber das erste Mal seit vielen Jahren gibt es die realistische Chance ein hegemoniales Projekt der Linken auszudenken.
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