Die Arbeiter*innen haben keine Schulden gemacht!
Die türkische Wirtschaft steckt in einer gefährlichen “Währungs- und Schuldenkrise”, die in eine langanhaltende Rezession zu münden droht. Über die Sommermonate des Jahres 2018 griff die Krise innerhalb weniger Wochen um sich und wirkt sich seit dem negativ auf die Inflation, die Beschäftigung und die Lebensbedingungen der armen Bürger*innen des Landes aus. Die türkische Lira hatte verliert seit längerer Zeit an Wert. Doch dieser Wertverlust beschleunigte sich 2018 enorm.
Oft wird diese Krise wegen des gespannten Verhältnisses zwischen der Türkei und den USA, “Dollar-Krise” genannt, oder man versucht, sie mit Verschwörungstheorien zu erklären. Das verhüllt jedoch die wahren Gründe und greift zu kurz. Die Ursache der aktuellen wirtschaftlichen Probleme der Türkei sind grundsätzliche Entscheidungen der Politiker, die das Land seit fast zwei Jahrzehnten beherrschen.
Die Türkei kämpft heute mit Problemen, die der neoliberale Kapitalismus ihr bescherte. Das Wachstumsmodell, finanziert durch billiges ausländisches Kapital, wurde dem Land von imperialistischen Ländern aufgezwungen – allen voran den USA. Dieses vom Ausland abhängige Wirtschaftsmodell, das komplett von ausländischer Finanzierung und Schulden lebt, stellt nicht die Produktion in den Vordergrund, sondern die Profite privater Firmen, vor allem die der Baufirmen. Jetzt ist es ins Schwanken geraten, weil der Kapitalfluss aus dem Ausland nicht mehr so kostengünstig und nachhaltig ist, wie in den vergegangenen Jahren.
Hauptproblem: Schulden des privaten Sektors
Seit mehreren Jahren gehört die Türkei zu den Jagdgründen des internationalen Finanzkapitals. Das Hauptproblem der türkischen Wirtschaft ist die Schuldenlast, vor allem die des Privatsektors, die in einer Zeit angehäuft wurde, in der die internationalen Finanzbedingungen günstig, also Fremdwährungen billig und die Zinsen niedrig waren. In einem Jahr stiegen die realen Schulden der Türkei um mehr als 10 Prozent und lagen Ende 2018 bei knapp 60 Prozent des BIP.
Das Wirtschaftswachstum, das durch Schulden im Ausland befeuert wurde, zerstörte natürlich gewachsene Strukturen der Großstädte und die Umwelt. Die Kredite wurden im buchstäblichen Sinne in Zement umgewandelt. Es wurden Einkaufszentren, Hotels und teure private Wohnanlagen gebaut. Die Konsumenten, die jetzt die Schulden schultern müssen, haben lange in scheinbarem Wohlstand gelebt. Die Vermarktung des Landes im Interesse des internationalen Finanzkapitals wurde ihnen als großer wirtschaftlicher Erfolg verkauft.
Da aber die günstigen internationalen Bedingungen der von den Machthabern in der Türkei bevorzugten “Wachstumsstrategie” nunmehr der Vergangenheit angehören, läuten seit längerer Zeit die Alarmglocken. Heute wachsen nur noch die Inflation, das Haushaltsloch, die Ausslandsschulden und die Artbeitslosigkeit. Die Inflation erreichte im November 21 Prozent. Die Arbeitslosigkeit lag im September 2018 bei 11,4 Prozent – Tendenz steigend.
Erdoğans Führungsstil vertieft die strukturelle Krise
Alle Regierungen des heutigen Staatspäsidenten Recep Tayyip Erdoğan haben diese Signale jahrelang ignoriert. Stattdessen schürte Erdoğan politische Konflikte. Er versprach den Wählern, dass er alle Probleme durch Verfassungsänderungen und die Errichtung des Ein-Mann-Regimes lösen kann. Doch das Gegenteil war die Folge. Das durch ein Verfassungsreferendum geschaffene neue Regime hat die Krise nicht verhindert, sondern weiter vertieft.
Als die Zweifel in der Bevölkerung größer wurden, rief Erdoğan für den 24. Juni 2018 vorgezogene Wahlen aus und wollte den Wählern weis machen, das Land werde sich stabilisieren, wenn durch diese Wahl auch seine Wunschmannschaft die Parlamentsmehrheit bekomme.
Doch, obwohl auch dieser Wunsch ihm erfüllt wurde, führten die in der Praxis abgeschaffte Gewaltenteilung, die Machtkonzentration auf den Staatspräsidenten, ein Führungsstil, der auf spontanen Entscheidungen fußt, die Verunglimpfung jeglicher Kontrolle der Macht als eine Last und die Ablehnung jeglichen Dialogs als Zeitverlust dazu, dass die Türkei heute erpressbar ist. Die Abwesenheit von Demokratie, Rechtsstaat und gesellschaftlichem Frieden vertieft die strukturelle Wirtschaftskrise.
Während die Inflationsrate täglich steigt, die Landeswährung an Wert verliert und die Zinsen in die Höhe schießen, präsentiert die politische Führung des Landes keine Lösungswege. Im Gegenteil: Die Äußerungen der politisch Mächtigen zeigen, dass sie die angestauten Probleme der Arbeiter völlig ignorieren. Stattdessen schmückt sich Erdoğan damit, sein Regime habe Streiks verboten und unmöglich gemacht.
Arbeiter*innen droht eine neue Sparpolitik
Ihre einzigen Lösungsansätze zielen auf die Entlastung der Schuldner, also des internationalen Finanzkapitals. Die Zeche sollen Arbeiter*innen, Rentner*innen und Arme bezahlen. Deshalb müssen sich heute die Gewerkschaften in der Türkei auf eventuelle IWF- oder Regierungsprogramme gefasst machen, die eine sogenannte Strukturreform vorsehen. Manche Wirtschaftsexperten erwarten bald nach den bevorstehenden Kommunalwahlen in März 2019 die Ankündigung eines weitgehenden „Reformprogramms“.
Eine solche Reform wird darauf abzielen, die Reallöhne weiter zu senken, sichere Arbeitsplätze zu vernichten, die Privatisierung voranzutreiben, die staatlichen Dienstleistungen zu kommerzialisieren und zu verteuern. Die Gewerkschaften müssen sich auf den Widerstand gegen ein solches Programm vorbereiten, dessen Ziel die Rettung der Banken, aber ebenso die Erhöhung der Steuerlast für die Arbeiter*innen sein wird.
Den Arbeiter*innen hat das Wirtschaftswachstum keinen Nutzen gebracht. Die Einkommensstrukturen verschoben sich zum Nachteil der arbeitenden Menschen. Die Regierung war bestrebt, den Standort Türkei dem internationalen Kapital schmackhaft zu machen, um damit die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu erhöhen. Die hohen Kosten dieses Programms mussten die Arbeiter*innen teuer bezahlen. Seit Jahren müssen sie Streikverbote, die Behinderung gewerkschaftlicher Arbeit und die Vernichtung sicherer Arbeitsplätze in Kauf nehmen. An Mord grenzende Arbeitsunfälle, Gesetzlosigkeit, niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten sind mittlerweile bitterer Alltag.
Die türkischen Machthaber haben dem internationalen Finanzkapital ein großes Geschenk gemacht – eine Arbeiterklasse, die wegen der niedrigen Löhne nur durch immer neue Schulden überleben kann und deshalb von Bankkrediten abhängig ist. Aber die Arbeiterklasse ist gleichzeitig auch die einzige Kraft, die die Abhängigkeit der Türkei vom Imperialismus und dem internationalen Finanzkapital beenden kann. Denn sie ist die einzige gesellschaftliche Gruppe, die von dieser Abhängigkeit überhaupt nicht profitiert.
Es sind aber nicht nur die Arbeiter*innen, die dieses zerstörerische Wachstumsmodell durch ihre Arbeit finanzieren müssen und darunter leiden. 99 Prozent der Bevölkerung, die ausgetrockneten Flüsse, die vernichteten Wälder und die zerstörten historischen Orte zählen ebenso zu den Opfern dieses Firmenparadieses.
Widerstand wächst und wird unterdrückt
Da die Gewerkschaften durch das Regime vereinnahmt werden und die Medien buchstäblich zu seinen Geiseln gemacht worden sind, können die Arbeiter*innen ihre Probleme nicht in die Öffentlichkeit bringen. Doch diese sind gravierend. Die Reallöhne und vor allem der Mindestlohn erodieren weiter. Massenentlassungen und betrügerische Insolvenzen erhöhen die Arbeitslosigkeit. Während die Steuerlast der großen Firmen gesenkt wird, werden von den arbeitenden Menschen neue Steuern erhoben. Während Demokratie und Rechtsstaat zerstört werden, wird für Aufrüstung und Kriege immer mehr Geld ausgegeben.
So bringt die anhaltende wirtschaftliche und politische Krise in der Türkei neue Spannungen und neuen Widerstand hervor. Im Dezember 2018 riefen mehrere Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftlichen Organsiationen zu einer Demonstration in Istanbul auf, um gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Entlassungen zu protestieren. Tausende Menschen beteiligten sich, obwohl jeder weiß, dass das Regime mit Oppositionellen nicht gerade zimperlich umgeht.
Aber nicht nur mit Demonstrationen versuchen die Arbeiter*innen die Pläne der Regierung zu bekämpfen. Im Herbst letzten Jahres legten sie an der Baustelle von Erdoğans Großprojekt “größter Flughafen Europas” die Arbeit nieder. Prompt wurden nachts ihre Wohncontainer von der Polizei überfallen und über 400 Arbeiter*innen festgenommen. Die Regierung und ihre Handlanger in den Medien warfen ihnen Sabotage vor. Wie treffend schrieb doch Bertolt Brecht: Der reißende Strom wird gewalttätig genannt, aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.
*Der Autor ist ein aktiver Gewerkschafter in der Türkei, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will.
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