Zünglein an der Waage
Zuvor hatte die regierende Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 ihre Mehrheit im türkischen Parlament verloren. Der AKP, der Partei des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, gelang dann wenige Monate später, in einer wiederholten Wahl, nur deshalb der Wahlsieg, weil Devlet Bahçeli, der Chef der ultranationalistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) den Staatspräsidenten zunehmend unterstützte.
Bevor Erdoğan die vorgezogene Wahl ausrief, erfand er einen Weg, um einerseits die Wahlhürde von 10 Prozent beizubehalten und andererseits seinen Verbündeten MHP, und zwar lediglich diese Partei, vor einem Scheitern an dieser Hürde zu bewahren. Erdogan ermöglichte dazu politischen Parteien per Gesetz Wahlbündnisse einzugehen und somit die Wahlhürde zu überspringen.
Opposition bildet eigenen Bündnis
Damit löste der türkische Staatspräsident jedoch eine Entwicklung aus, die er selbst nicht vorausgeahnt zu haben scheint. Ihre Überlebensinstinkte brachte die Opposition, die sich bis vor Kurzem auf gar nichts hatte einigen können, nun dazu, ihrerseits ein Bündnis zu bilden. Drei Parteien, die demokratisch-nationalistische Gute Partei (İyi Parti), die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) und die islamistische Glückseligkeitspartei (SP) bündelten nun ihre Kräfte unter dem Namen „Bündnis der Nation“. Dadurch entstand unerwartete Dynamik. Die könnte nun dazu führen die AKP um ihre Mehrheit im Parlament zu bringen. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan nicht im ersten Wahlgang gewählt wird, ja sogar, dass er bei der Stichwahl abgewählt wird.
Doch dazu bedarf es einer bestimmten Voraussetzung: Die Demokratische Partei der Völker (HDP), also die Partei, die die Opposition in ihrem Bündnis nicht dabei haben wollte, muss die Wahlhürde schaffen. Denn falls die HDP mit ihren als sicher geltenden 9,5 Prozent der Stimmen knapp an der Wahlhürde scheitern sollte, ginge der überwiegende Teil der 54-55 Sitze im Parlament, die sonst der HDP zustehen würden, an die AKP. Denn die AKP ist in den kurdischen Landesteilen, wo die HDP am stärksten ist, die zweitstärkste politische Kraft. Gelingt es der AKP diese 48-50 Sitze zusätzlich zu erobern, gehört ihr auch zuverlässig die parlamentarische Mehrheit.
Gelingt es der HDP auch nur einen Prozentpunkt zusätzlich zu ergattern, also z.B. mit 10,5 Prozent der Stimmen die Wahlhürde zu überwinden, so wäre sie mit ungefähr 65 Abgeordneten im neuen Parlament wieder vertreten. Damit könnte keines der beiden großen konkurrierenden Bündnisse allein das Parlament dominieren, auch wenn sie jeweils 43-45 Prozent der Stimmen auf sich vereinen könnten.
Die Wahl selbst findet unter Bedingungen des Ausnahmezustandes statt. Damit die HDP an der Wahlhürde scheitert, trifft die Regierung vor allem in kurdischen Provinzen Sondermaßnahmen. Diese Maßnahmen, gepaart mit politischen Repressionen, sind ein großes Risiko für die HDP. Dennoch grenzten die anderen drei Oppositionsparteien die HDP aus. Könnte die HDP im „Bündnis der Nation“ antreten, müsste sie sich keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie die Wahlhürde nehmen könnte.
HDP wird Kern einer linken Bewegung
Die Ausgrenzung der HDP führte erneut ganz konkret vor Augen, dass der sunnitisch-türkische Block in der Türkei weiterhin funktional und stark ist. Dieser in der Vergangenheit auch gegen Nicht-Muslime eingesetzte Block, widersteht heute der Forderung der Kurden in der Türkei, gleichberechtigte Bürger zu werden, ohne die eigene Identität zu verlieren.
Auch diese Allianz des Türkentums blutet jedoch allmählich aus. Denn sowohl in der CHP, als auch in der SP entstanden Kreise, die einer Einbindung der HDP in den Wahlbündnis positiv gegenüberstünden.
Daher wird nun erwartet, dass vor allem ein Teil der CHP-Wähler aus strategischen Gründen in der Parlamentswahl für die HDP stimmen und so ihren Wiedereinzug ins Parlament sichern werden. Denn es hängt schlicht vom Ergebnis der HDP ab, ob die anderen Oppositionsparteien im zukünftigen Parlament stark sein werden oder Statistenrollen einnehmen müssen.
Die Ausgrenzung der HDP beschert ihr aber auch viele neue Sympathisanten. Damit hat sie nun die Gelegenheit ins Zentrum einer starken linken Bewegung zu rücken, die Solidarität, Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie für alle Bürger fordert – und das ohne dabei die Identitätsfragen zu ignorieren, oder umgekehrt, diese zu ihrem einzigen Thema zu machen.
Dass der Präsidentschaftskandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl mehr Stimmen erhält, als 2014 und die HDP eine starke parlamentarische Gruppe bildet, wird zu einer zwar nicht ausreichenden, aber unerlässlichen Voraussetzung dafür, gegen den Erdoğanismus und seinen Ein-Mann-Autoritarismus vorzugehen. Dieser drückt inzwischen dem Land die Luft ab. Die Bürde dagegen anzugehen liegt nicht alleine bei der HDP, sondern ist Sache aller Staatsbürger der Türkei, die ihre nationalistischen Reflexe besiegen sowie die Angstmacherei der Allianz des Türkentums ignorieren können und stattdessen ernsthaft an die Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit glauben.
Eines ist deutlich: Die Parlamentswahl ist genauso wichtig wie die Präsidentschaftswahl. Die Stimmen der HDP werden darüber entscheiden, ob die AKP und ihre Verbündeten eine Mehrheit im Parlament bekommen. In diesem Sinne ist es wichtiger, dass die HDP die Wahlhürde überwindet, als die Frage wie viele Stimmen die Bündnisse „Volk“ und „Nation“ für sich sichern.
Das wissen natürlich alle. Weil eine effektive Arbeit des „Bündnisses der Nation“ von der HDP abhängt, wird erwartet, dass sie von linken und sozialdemokratischen Wählern erhebliche Unterstützung bekommt, wie es bereits bei der Wahl am 7. Juni 2015 der Fall war. 2014, vor der Wahl des Staatspräsidenten, hatten viele Menschen den HDP-Kandidaten Demirtaş mit ihrer Unterschrift unterstützt und ihm die Kandidatur ermöglicht, obwohl sie ihn später nicht wählten. Das war eine richtige Entscheidung, weil dadurch der Pluralismus siegte. Heute ist es sogar wichtiger, dass diese Menschen die HDP wählen.
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