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Roland Kulke

Was ist vom 'Aufbauplan' des EU-Rates zu halten?

EIBNER / EXPA / Michael Gruber / imago / Eibner Europa

Vom 17.-21. Juli saßen die Chefs der EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel zusammen und feilschten ebenso über den "Aufbauplan", der die Corona geschwächten Wirtschaften stabilisieren soll, wie den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen, in dem die jährlichen Höchstbeträge festgelegt werden, die von der EU in den einzelnen Politikfeldern in den nächsten sieben Jahren ausgegeben werden dürfen. Was ist von ihren Beschlüssen zu halten?

Man muss zunächst anerkennen, dass eines der großen wirtschaftspolitischen Dogmen der EU tatsächlich über Bord geworfen wurde. Erstmals wurde beschlossen, dass sich die EU verschulden darf. In Zeiten so geringer Zinsen Geld aufzunehmen, um es in relevante Projekte zu investieren, ist klug. So kommt immerhin, bezogen auf die gesamte EU, ein ökonomischer Anreiz von 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes der EU für die nächsten drei Jahre zu Stande.

Wenn dem so ist, warum sprach dann der linke Abgeordnete des Europäischen Parlaments Martin Schirdewan, der Ko-Vorsitzende der linken GUE/NGL-Fraktion, von einem "schwarzen Tag" für Europa? Weil wesentliche Probleme der EU völlig außer Acht gelassen wurden…

Was sind die großen ungelösten Probleme? 

  1. Entgegen aller Behauptungen gibt es nach wie vor keine klare Kopplung von EU-Hilfen mit der Einhaltung rechtstaatlichen Verhaltens; 
  2. Die "Rabatte", die die "unsolidarischen Vier" (die Niederlande, Österreich, Dänemark, Schweden, die für eine schlanke EU-Haushalt plädieren und die EU-Hilfe für Corona-angeschlagene Länder an neoliberale Strukturreformen anknüpfen wollen) und das angeblich so "gute" Deutschland sich für weitere sieben Jahre auf ihre EU-Beiträge gesichert haben, die nun vor allem auf Kosten von Frankreich und Italien gehen werden.
  3. Es ist jetzt schon klar, dass es früher oder später zu neoliberalen Auflagen kommen wird für die Länder, die Gelder von der EU erhalten. Yanis Varoufakis hat als erstes in einem Artikel, über den niemand reden wollte, den "Elefanten im Raum" offen benannt: die Kürzungspolitik. Zurecht stellte er fest, dass der unsinnige "Stabilitäts- und Wachstumspakt" zurzeit nur ausgesetzt wurde. So hat der Vize-Präsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis bereits angekündigt, im Herbst dieses Jahres die Diskussion darüber zu starten, wann es endlich wieder Anweisungen der EU geben kann an ihre Mitgliedsstaaten diesen Pakt einzuhalten
  4. Ist es zu einer Kürzungsorgie gekommen, die die zukunftsträchtigsten Programme teilweise ganz ausradiert hat.

Hilft der „Aufbauplan“ den Empfängerstaaten?

Zunächst einmal bedeuten die Beschlüsse des Rates, dass die EU sich gemeinsam verschulden wird, und zwar in einem Ausmaß von 750 Milliarden Euro. Davon wird etwa Italien 13 Prozent zu stemmen haben – bei einer Staatsverschuldung von rund 160 Prozent des Bruttoinlandproduktes (2020). Wenn man diese Neuverschuldung mit den Zuschüssen gegenrechnet, die Italien im Rahmen des sogenannten Hilfspakets bekommen soll, erhält Italien in den Jahren zwischen 2021und 2023 30 Milliarden Euro netto. Zum Vergleich: Deutschland wird die ostdeutschen Kohleregionen, in denen 16.000 Jobs von der Kohleindustrie abhängen, mit 20 Milliarden Euro zu unterstützen. 

In den Verhandlungen kam es zu einem schlechten Ausgleich der Interessen der vier unsolidarischen Staaten, die einfach nur kürzen wollen, und den Staaten, die schnelle direkte Hilfen benötigen. Das Ergebnis war, dass die Zuschüsse von 310 Milliarden Euro leicht auf 312,5 Milliarden Euro erhöht wurden, allerdings die zukunftsorientierten Projekte teilweise komplett gestrichen wurden.

Darunter leiden vor allem klimapolitisch wichtige Programme. So wurde zum Beispiel das Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums halbiert und der Fond für einen gerechten Übergang um zwei Drittel gekürzt. Das Solvenzhilfeinstrument, durch das in der größten Wirtschaftskrise kleine und mittlere Unternehmen unterstützt werden sollten, gleich zur Gänze eingestellt. An Dreistigkeit nicht zu überbieten ist, dass auch das Gesundheitsprogramm komplett gestrichen wurde. Im Rahmen dessen war unter anderem vorgesehen, Reserven und medizinischer Versorgungsgüter anzulegen sowie Gesundheitsfachkräfte für den Einsatz in der gesamten EU auszubilden, damit sie im Notfall dort eingesetzt werden könnten, wo sie am dringendsten gebraucht werden (EU4Health). 

Ganz unabhängig von den Zuschüssen für die von Corona-gebeutelten Volkswirtschaften sieht es beim ausgehandelten Aufbauplan und dem mehrjährigen Finanzplan für die Klimapolitik düster aus. Unser unmittelbar größtes Problem ist die radikale Reduktion des CO2-Ausstoßes. Doch selbst wenn das Ziel festgesetzt wird, dass 30 Prozent der Mittel des mehrjährigen Finanzplanes und des Aufbauplans für den Klimaschutz ausgegeben werden sollten, wären das für die nächsten sieben Jahre 547,2 Milliarden Euro Nach Berechnungen der Kommission benötigen wir allerdings 1,46 Billionen Euro an Investitionen jährlich, um die Klimaziele bis 2030 noch erreichen zu können. Wenn wir nun die Gefahr der Wiedereinführung des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit seinen Kürzungsauflagen hinzunehmen, wird klar: die Mitgliedstaaten und die EU selbst werden nie und nimmer über die finanziellen Mittel verfügen, um auch nur die Minimalziele einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu erfüllen.

Was können also Lösungen sein?

Die Ergebnisse der Ratstagung sind zu facettenreich für eine einfache Antwort auf diese Frage. Kurzfristig müssen sich einzelne Mitgliedstaaten in einer "Koalition der Willigen für Eurobonds" zusammenschließen und damit an die Finanzmärkte gehen. Nur so können sie die neoliberalen Auflagen der EU umgehen. Mittelfristig geht es nicht ohne EU-Vertragsänderungen. Nur so kann die EU dauerhaft das Recht erhalten, Schulden zu machen, und eine "normale" Zentralbank erhalten. Es muss eine Machtverschiebung zugunsten des Europäischen Parlaments geben. Parlamentarier im EP sind bei weitem nicht die moralisch besseren Abgeordneten, beileibe nicht. Aber sie müssen sich in politischen Diskussionen mit ihren Parteigenossen aus anderen Ländern auseinandersetzen, was sie andere Länder mitdenken lässt. Das EP muss endlich zum zentralen Punkt der politischen Auseinandersetzungen in der Europäischen Union werden, mit Kontrollfunktionen.

Das Ergebnis der Verhandlungen kann also so zusammengefasst werden: Einerseits haben die 27 Mitgliedstaaten tatsächlich schnell ein Hilfspaket von 750 Milliarden Euro geschnürt. Andererseits ist dies gemessen an den realen Herausforderungen ein "Klacks". Weiterhin wurden die Regierungen der Nationalstaaten gestärkt und nicht das demokratisch legitimierte Europäische Parlament. Trotz des großen Aufhebens: die Entschlüsse vom 21. Juli haben Zusammenarbeit in Europa nicht gestärkt.


Roland Kulke vertritt transform! europe in Brüssel und ist Koordinator der Arbeitsgruppe „Produktive Transformation“.


Dieser Kommentar wurde redigiert. Das Original erschien zunächst am 4. August 2020 auf der Webseite von transform! europe.


 

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