In Vielfalt geeint
Mehr als 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 30 Ländern haben sich am 10. und 11. November in Marseille beim European Forum of Progressive Forces (Europäisches Forum der progressiven Kräfte) getroffen und über Wege zu einem demokratischen, sozialen friedlichen und ökologisch nachhaltigen Europa diskutiert. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Betonung der Gemeinsamkeiten und der dringend nötigen Vernetzung der europäischen Linken (EL). Inhaltlich ging es vor allem um Friedenspolitik, Arbeits- und soziale Rechte, Demokratie und Nachhaltigkeit.
Das Forum ist als ein Prozess angelegt und wird im kommenden Jahr mit einer zweiten Tagung fortgeführt werden, wie in der gemeinsam verabschiedeten Deklaration beschlossen wurde. Dort müssen wir versuchen, noch mehr Parteien und Organisationen anzusprechen, um eine Breite zu erreichen, die deutlicher über das Spektrum der EL hinausgeht. Teilweise ist dies schon gelungen, so waren Vertreterinnen und Vertreter des »Progressive Caucus« (u.a. Sozialisten aus Frankreich), von Labour und Left Unity aus Großbritannien und der SP aus den Niederlanden sowie von Grünen Parteien (u.a. aus Katalonien und Frankreich) anwesend. Ein erster Schritt zur Vernetzung einer breiten europäischen Linken wurde also gemacht, und die Presseresonanz war positiv, ist aber noch ausbaufähig.
Bezogen auf die Situation in Europa habe ich in meiner Rede beim Forum in Marseille hervorgehoben, dass die Einheit der Linken zwar schon oft beschworen und gefordert wurde, aber dass es diesmal wirklich darauf ankommt: Die EU und viele Nationalstaaten sind in einer existentiellen Krise, und die Demokratie, wie wir sie kennen, und das Zivilisationsprojekt Europa stehen auf dem Spiel. Die soziale Krise in der EU führte auch zur zunehmenden Spaltung der Bevölkerungen, und die soziale Ungleichheit der Menschen und ihre Ängste werden politisch ausgenutzt – europaweit. Dies hat zum Aufstieg der Rechtspopulisten beigetragen.
Es könnte sein, dass wir auf diese Epoche zurückschauen, und uns fragen, warum wir uns nicht zum gemeinsamen Kampf durchringen konnten in einer Zeit, in der offen faschistische und rechtsextreme Parteien in weiten Teilen der EU dramatisch zulegten und sich existenzielle Fragen der Demokratie in Europa stellten, zum Beispiel bezüglich der Einschränkung von Pressefreiheit und Gewaltenteilung.
Gegen Troika-Politik
Mein Appell war, dass wir uns darauf konzentrieren, gemeinsam für eine Politik der öffentlichen Investitionen und des sozial-ökologischen Umbaus zu streiten, was im radikalen Gegensatz zur Austeritätspolitik der Troika steht. Ich wollte mich dort nicht dazu äußern, ob wir mit einem »Plan A« versuchen sollten, die jetzige EU zu reformieren oder einen »Plan B« entwickeln müssten, falls das erste nicht klappte. Mir ging es darum, dass diese zwar wichtigen, aber wenn die Existenz eines sozialen und demokratischen Europas auf dem Spiel steht, doch zweitrangigen Fragen uns nicht spalten. Ich rief dazu auf, uns auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, nicht auf das Trennende!
Bezüglich der Situation in Griechenland gibt es jedoch manche, die sagen, die Regierung dort mache eine falsche, unsoziale Politik und habe sich dem Austeritätsdiktat der Troika angepasst. Es gibt da aber einen Riesen-Unterschied zum Beispiel zu den sich sozialdemokratisch nennenden Regierungen von Schröder in Deutschland und Blair in Großbritannien: Dort wurde der neoliberale Umbau des Sozialstaates zum Programm gemacht, und offensiv vertreten als »Politik der Mitte“, während Syriza die Austeritätspolitik klar ablehnt, dies auch öffentlich immer wieder betont, und trotzdem versucht, die dramatischen Folgen für die griechische Bevölkerung abzumildern, was sehr schwierig ist. Dabei stellte sich die folgende Frage grundlegend: Kann man bei einem gemeinsamen Markt den einzelnen Staat zur Abschottung gegen neoliberale Zumutungen nutzen? Das kann vielleicht in einem gewissen Maß gelingen, die Spielräume sind jedoch begrenzt.
Gerade abgehängte junge Menschen, die beispielsweise in südeuropäischen Ländern arbeitslos sind, brauchen den sozialen Schutzschirm eines solidarischen Europas. Die Nationalstaaten können dies nur sehr begrenzt leisten, gerade in schwächeren Volkswirtschaften und kleinen Ländern: Wie sollen Griechenland oder Luxemburg ernsthaft mit den USA oder Kanada über ein faires Handelsabkommen verhandeln, was soziale Standards berücksichtigt? Es ist also gerade auch im Interesse des unteren Drittels der Gesellschaft, dass es auf europäischer Ebene soziale Garantien und Mindeststandards gibt, denn sonst wird der brutale Wettbewerb kapitalistischer Nationalökonomien auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen. Es ist die gemeinsame Aufgabe aller Linken, dies unbedingt zu verhindern.
Ich wies darauf hin, dass die Europäische Linke für ein soziales und ökologisches Europa kämpft – wir wollen auch glaubhaft ein Politikangebot machen, welches den Klimaschutz mit einer erheblichen Besserstellung ärmerer Bevölkerungsgruppen verbindet. Dann werden auch Mehrheiten für ein ökologisches Umsteuern möglich, und dies ist angesichts der Herausforderung des Klimawandels dringend erforderlich, denn dieser gefährdet die Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen.
Das Forum von Marseille hatte zum Ziel, einen Prozess zu initiieren, bei dem wir als Linke gemeinsam mit progressiven Sozialdemokraten und Grünen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen daran arbeiten, ein breites Bündnis für ein anderes Europa aufzubauen. Es ist unsere Aufgabe, bei allen internen Widersprüchen, gemeinsam zu kämpfen. Wir müssen es schaffen, uns hinter einem »Minimalkonsens für ein soziales und solidarisches Europa« zu versammeln und dann, in Vielfalt geeint, in den Dialog mit der Gesellschaft zu treten.
Dafür brauchen wir vor allem den Mut zum Kompromiss – wir müssen uns leidenschaftlich streiten in kulturvollen politischen Debatten, aber am Ende des Tages zusammenstehen und nicht vergessen, wer die waren Gegner sind: die Neoliberalen und die Rechtspopulisten, zunehmend auch offen Rechtsextreme, die wir entschieden bekämpfen müssen. Der Geist des Faschismus ist längst wieder auferstanden und er wird nicht von alleine verschwinden – ihn zu bekämpfen muss unsere gemeinsame Aufgabe werden.
Gregor Gysi ist Präsident der Europäischen Linken
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