Gleichschaltung à la Turca
Am 19. Februar 2019 wurden die langjährigen Haftstrafen gegen sieben Journalisten der Zeitung Cumhuriyet in der Türkei von einer höheren Instanz bestätigt. Zuvor wurden am 31. Oktober 2016 der Herausgeber, der Chefredakteur und einige Redakteure der Zeitung „Cumhuriyet“ im Morgengrauen durch Polizei von Zuhause abgeholt und festgenommen. Damit begann ein von breiten Kreisen mit großem Interesse verfolgter juristischer Prozess, der fortan in der türkischen wie auch europäischen Öffentlichkeit als „der Fall Cumhuriyet“ bekannt geworden ist.
Falsch.
Denn die Razzien vom 31. Oktober 2016 und das Danach markieren nicht den Beginn sondern das Ende eines Prozesses. Sollte der Fall Cumhuriyet nur in diesem Zusammenhang behandelt und die Geschichte einer Zeitung erzählt werden, die zum Schweigen gebracht wurde, lässt sich das Geschehene relativ einfach darstellen.
Die Mitarbeiter von Cumhuriyet wurden nach fünf Tagen in Polizeigewahrsam mitten in der Nacht dem Richter vorgeführt. Der ordnete auf der Stelle Haft an, ohne einen Blick auf die Anklageschrift zu werfen. Die Staatsanwaltschaft verfasste diese nämlich erst sechs Monate später. Dem Herausgeber und den Redakteuren wurde Abweichung von der traditionellen kemalistischen Linie der Zeitung sowie Propaganda für die PKK und die Gülen-Bewegung zur Last gelegt.
Die Unterstellung von Propaganda für diese beiden tödlich verfeindeten Organisationen war blanker Unsinn. Der von der AKP bzw. dem Erdogan-Regime kontrollierte Justizapparat verurteilte die Angeklagten am 25. April dennoch zu Haftstrafen von zwei bis acht Jahren.
Das Urteil im parallel geführten Verfahren gegen die Cumhuriyet-Stiftung, die Besitzerin der Zeitung, fiel fast gleichzeitig. Am 7. September 2018 wurden die Vorstandsmitglieder entlassen und die Stiftung bzw. die Chefredaktion dem türkisch-nationalistischen Flügel der Kemalisten überantwortet. 26 Mitarbeiter und Redakteure, mehrheitlich in führenden Positionen, wurden entlassen.
Somit hatte die Judikative ihre Aufgabe erfüllt und die Führung der Zeitung wegen Abweichung von ihrer eigenen Linie bestraft. Daraufhin bestraften die Leser die „neue“ Führung. Die Auflage sank innerhalb kürzester Zeit von 42 Tausend auf 28 Tausend Exemplare. Tendenz weiter fallend.
Politischer Islam und Demokratie
Soll die Causa Cumhuriyet nur als juristisches Problem oder als ein Fall von Rechtlosigkeit gesehen werden?
Die Haftstrafen und der Austausch der Leitungen von Stiftung und Redaktion sind nicht nur Belege für Rechtlosigkeit.
Es muss die Frage erlaubt sein: Wofür brauchte man die „Cumhuriyet-Operation“, die bei der demokratischen Öffentlichkeit in der Türkei wie auch in Europa ein nicht zu unterschätzendes Echo fand, dem Regime in der Türkei zum Verhängnis wurde und ihm auch in der Zukunft keine Ruhe lassen wird?
Wenn man diese Frage beantworten will, lautet der Schlüsselbegriff „politischer Islam“.
Dieser schreibt den Menschen nicht nur religiöse Riten vor, sondern auch strenge Regeln für ihr weltliches Leben. In der Türkei ist seit 2002 die AKP an der Macht, eine Partei des politischen Islams. Sie übt die Alleinherrschaft aus.
Doch zwischen dem politischen Islam und der Demokratie besteht ein unüberwindbarer Antagonismus. Auch in Demokratien müssen sich die Bürger an Gesetze halten. Diese sind von ihren gewählten Vertretern gemacht und änderbar. Im politischen Islam gelten jedoch göttliche Gesetze. Sie dürfen nicht geändert, geschweige denn in Frage gestellt werden.
Darauf beruhen Aufbau und Funktion des Staates. Auch der durch Wahlen an die Macht gekommene Staatschef ist zugleich ein „Emir“ bzw. ein „Imam“. Ihm und dem Staat, in dem er die Macht hat, ist zu gehorchen.
Die Staatsauffassungen des politischen Islams sind zweifellos nicht in reiner Form zu verwirklichen. Wer einen solchen Staat um jeden Preis errichten will, wird dies jedoch „so weit wie möglich“ durchsetzen.
Die AKP unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan ist eine politische Bewegung, eine Partei, welche die seit 200 Jahre bestehende Machtgier des politischen Islams im Jahre 2002 gestillt hat. Menschen, Institutionen und Bewegungen, die dieser Macht nicht gehorchen, sich ihr nicht beugen oder gar widersetzen, werden nicht als Opposition, sondern als Feinde angesehen.
Betrachten wir die „Cumhuriyet-Operation“ in diesem Licht.
Türkische Medien: "Organe des Regimes"
Überall in der Welt erscheinen Zeitungen, die als Sprachrohr verschiedener politischer Parteien und Bewegungen gelten. Sie werden nicht gelesen, um Nachrichten zu erfahren, zumal sie mitnichten als unabhängige Medien angesehen werden. Korrupte Journalisten gibt es auch überall.
Regierungen, politische Parteien, Banken, internationale Unternehmen wie auch gigantische Firmen kaufen solche Zeitungen, solche Journalisten und setzen sie je nach Bedarf ein.
Tayyip Erdogan ist sicherlich kein Intellektueller. Doch er ist ohne Zweifel ein gewiefter Händler.
Der schlaue Erdogan hat weder versucht, ein einflussloses Medium an sich zu reißen, noch machte er Anstalten, Journalisten zu kaufen. Stattdessen leitete er Stück für Stück eine Strategie in die Wege, um sämtliche Medien der Türkei an sich zu bringen. Das ist ihm gelungen.
Eine 2016 vom Journalistenverband der Türkei in Auftrag gegebene Untersuchung ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.
Laut dieser Studie waren bereits 2016 72 Prozent der Print- und 74 Prozent der visuellen Medien auf einer Linie mit der AKP-Regierung. Sie wurden teilweise zu Medien umgewandelt, die man getrost „Organe“ nennen kann. Ein Finanzpool, der aus höchstens fünf oder sechs großen Bauunternehmen besteht, die den Löwenanteil bei den staatlichen Ausschreibungen erhalten, hat Zeitungen und Fernsehanstalten aufgekauft und deren Führungsetagen mit Leuten bestückt, die Erdogans Empfehlungen und Anweisungen befolgen.
Im Frühjahr vorigen Jahres hat sich das Bild noch einmal radikal verändert und die Abhängigkeit verdichtet. Die Dogan-Gruppe, die größte Mediengruppe der Türkei, gab dem Druck der auf die Dauer zermürbenden staatlichen Steuer- und Finanzprüfungen nach und wurde an die linientreue Demirören-Gruppe verkauft. So änderten sich die Zahlen der besagten Studie aus dem Jahr 2016 drastisch. Jetzt sind 93 Prozent der Print- und 91 Prozent der visuellen Medien im wahrsten Sinne des Wortes zu „Organen“ geworden.
In dieser Medienlandschaft war die unbestechliche Cumhuriyet, die keinen Chef aus der Finanzwelt hatte und im Besitz einer Stiftung ist, in der mehrheitlich die Mitarbeiter das Sagen hatten, auf einmal ein Dorn im Auge. Sie war die einzige Tageszeitung, die kein Parteiorgan darstellte. Sie genoss weltweit hohes Ansehen. Eine Zeitung, die seit Ewigkeiten gern von Intellektuellen gelesen wird. Die AKP hat sie als so störend empfunden, dass es für sie vor allem nach der Enthüllung von Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Dschihadisten durch die Zeitung unerlässlich wurde, sie zum Schweigen zu bringen.
Jetzt kehren Sie bitte zum ersten Absatz dieses Artikels zurück und lesen ihn noch einmal.
Aydın Engin ist der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet und Kolumnist der Online-Zeitung T24. Er wurde im Rahmen des Prozesses gegen Cumhuriyet zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt.
Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.