Gerade jetzt: Konstruktive Gespräche mit London notwendig
Die Befürchtungen haben sich bestätigt: Mit Boris Johnson wird ein konservativer Politiker neuer Premier Großbritanniens, der erklärtermaßen einen No-Deal-Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU nicht ausschließt. Jetzt müssen konstruktive Verhandlungen über einen geregelten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geführt werden – auch wenn der neue Regierungschef in London ein schwieriger Partner sein wird.
Ein No-Deal-Austritt würde dem künftigen Verhältnis zwischen beiden Seiten schweren Schaden zufügen, den die Menschen dies- und jenseits des Ärmelkanals zu tragen hätten. Nicht zuletzt birgt eine ungelöste Nordirland-Frage die Gefahr eines Wiederaufflammens des alten Konflikts auf der irischen Insel. Boris Johnson hat in seiner Brexit- und Wahlkampagne mit den Sorgen der Menschen gespielt und diese in egoistischer Weise für seine politische Karriere genutzt. Johnson wäre klug beraten, sich eine Mehrheit für seinen harten Kurs nicht nur bei den Tories, sondern bei der gesamten britischen Bevölkerung einzuholen.
Klar ist die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bürger*innen zum Austritt aus der EU vor drei Jahren zu akzeptieren, zugleich aber auch die veränderte Stimmungslage nach drei Jahren chaotischer Verhandlungsführung für einen Austrittsvertrag seitens der Tory- Partei unter Theresa May. Weder der Backstop für das künftige Verhältnis zwischen Vereinigtem Königreich und Irland entlang der nordirischen Grenze, noch das sogenannte ring-fencing für die Sicherung der Bürger*innenrechte, sowie die fälligen Einzahlungen in den EU-Haushalt sind ohne Vertrag geklärt.
Die EU-27 muss jetzt mit der neuen Situation in London umgehen. Das kann nur heißen, die neue britische Regierung und das Unterhaus müssen ihre Position zum mit der EU ausgehandelten Brexit- Vertrag deutlich machen, konkrete Veränderungsvorschläge unterbreiten und die Seite der EU 27 offen damit umgehen – auch wenn der neue Regierungschef in London ein schwieriger Partner sein wird. Sich in die Schmollecke zurückzuziehen, bringt nichts. Weder für die EU-27, noch für Großbritannien.
Wie auch immer aber die konkrete Ausgestaltung des Brexits aussehen wird – EU-Europa muss Lehren ziehen, die weit über den ‚Fall Großbritannien‘ hinausgehen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil eine Politik, die den Interessen der Bürger*innen verpflichtet ist, nicht nur Aufgabe der EU als Ganzes, sondern auch der Regierungen ihrer Mitgliedstaaten sein muss. Das heißt insbesondere, verbindliche Sozialstandards, angemessene Mindestlöhne und die Schaffung einer europäischen Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, umzusetzen und so die Menschen wieder für Europa zu gewinnen. Europäische Politik auf allen Ebenen – vom EU-Rat bis zur Kommune – muss zurück in den täglichen Dialog mit den Bürger*innen. Entscheidungsprozesse sind konsequent transparent zu gestalten und durchzusetzen. Die Bürger*innen müssen mitreden und mitentscheiden können, nicht allein in Alibiveranstaltungen. Das gilt von London über Berlin bis nach Bukarest. Dazu gehört im Falle des Brexit gegebenenfalls auch eine erneute Befragung des Souveräns, der Bürger*innen Großbritanniens - zum Wie und zum Ob.
Helmut Scholz ist Europaabgeordneter der LINKEN und Berater der Steering Group des EU-Parlaments zum Brexit in Handelsfragen
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