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Krunoslav Stojaković

Blutige Hemden, hemdsärmlige Politik

Am 5. Januar gingen in Belgrad mehrere zehntausend Menschen bei Eiseskälte auf die Straße. Zuvor wurde der Vorsitzende der serbischen Linkspartei Borko Stefanović tätlich angegriffen. Daraufhin rief die Opposition zum Protest gegen den immer autoritärer werdenden Politikstil der nationalkonservativen Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und ihren Vorsitzenden, Staatspräsident Aleksandar Vučić, auf.

Am 5. Januar - dem fünften Samstag in Folge - gingen in Belgrad mehrere zehntausend Menschen bei Eiseskälte auf die Straße. Die ersten beiden Protestmärsche unter dem Namen »Stopp den blutigen Hemden« wurden noch durch die unter dem Namen »Bund für Serbien« vereinigte Opposition als Reaktion auf den tätlichen Angriff auf Borko Stefanović initiiert. Der Vorsitzende der serbischen Linkspartei (Levica Srbije) war am 23. November 2018 zusammen mit zwei seiner Parteikollegen krankenhausreif geschlagen worden. Daraufhin rief die Opposition zum Protest gegen den immer autoritärer werdenden Politikstil der nationalkonservativen Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und ihren Vorsitzenden, Staatspräsident Aleksandar Vučić, auf.

Zunächst versuchte die regierende SNS, die Proteste der Lächerlichkeit preiszugeben. Der omnipräsente Vučić verstieg sich gar zur Aussage, er würde keine der aufgestellten Forderungen erfüllen, selbst wenn fünf Millionen Menschen auf die Straße gingen. Das Ergebnis war, dass die Protestmärsche anwuchsen und seitdem unter der Losung »Einer von fünf Millionen« stattfinden. Anhand von skurrilen mathematischen Modellen, die von Innenminister Nebojša Stefanović vor laufenden Kameras erläutert werden, versucht die Regierung, die Teilnehmerzahlen nach unten zu rechnen. Auch die Möglichkeit von vorgezogenen Neuwahlen wurde von Vučić ins Spiel gebracht. Doch angesichts ihrer nahezu vollkommenen Kontrolle über die Medien und Staatsinstitutionen könnte von einem demokratischen Willensbildungsprozess nur schwerlich ausgegangen werden.

Die Protestierenden prangern die Medienberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks »RTS« sowie die zunehmende Gewalt und die Einschüchterungsversuche gegen kritische Journalisten an. Zudem fordern sie die Rücktritte des serbischen Innenministers Nebojša Stefanović sowie des RTS-Generalintendanten Dragan Bujošević.

Auch in anderen serbischen Städten fanden inzwischen Protestmärsche statt, so in Niš, Novi Sad und Kragujevac. Dabei war das Jahr 2018 kein gutes für die Oppositionsparteien in Serbien. Bei den im Mai abgehaltenen Kommunalwahlen schaffte es die ehemals regierende Demokratische Partei (DS) noch nicht einmal in ihrer Hochburg Belgrad ins Stadtparlament. Die Misere der DS ist indes nur das Spiegelbild einer fundamentalen Krise jenes liberalen politischen Blocks, der im Oktober 2000 den Sturz von Slobodan Milošević maßgeblich initiiert hatte und Serbien den »Weg nach Europa« ebnen sollte. Abgewählt, weil die sozialen Zumutungen und der als alternativlos dargestellte Privatisierungs- und Deindustrialisierungsprozess den Großteil der Bevölkerung an den Rand der Armut gedrängt hatten, wurden die serbischen Liberalen mit der Übernahme der politischen Macht durch die SNS auch noch ihres Alleinstellungsmerkmals beraubt - der europäischen Integration. Vučić, seit 2012 der starke Mann in der serbischen Politik, spielt versierter auf der Klaviatur zwischen Moskau und Brüssel.

Durch ihre sehr guten politischen Kontakte zur extremen Rechten schaffte es die SNS, diese zu pazifizieren - allerdings um den Preis ihrer Integration in die Staatsstrukturen. Die Verhandlungen um die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo zeigen dies mehr als deutlich: Es gibt auf Serbiens Straßen und Plätzen keine nationalistischen Massenaufläufe, keine rituellen Verbrennungen kosovarischer oder US-amerikanischer Staatsflaggen. Dieses Szenario wird vom Westen selbstverständlich begrüßt, doch kostenlos ist es nicht zu haben. Die De-facto-Alleinherrschaft der SNS duldet keine Infragestellung ihrer Politik.

Das Oppositionsbündnis indes ist ein diffuses Gebilde aus acht Parteien, das von der liberalen DS bis hin zu den klerikal-nationalistischen »Dveri« und der sich irrtümlich als Linkspartei bezeichnenden »Levica Srbije« reicht. Entstanden als Reaktion auf die verheerenden Ergebnisse bei den Kommunalwahlen, stellt das Bündnis den verzweifelten Versuch dar, die serbische Opposition unter einem ideologischen Minimum zu vereinigen. Erklärtes Ziel ist es, durch eine Art Übergangsregierung die Voraussetzungen für faire Neuwahlen zu schaffen. Doch ein Rücktritt der Regierung unter Premierministerin Ana Brnabić ist weder absehbar noch realistisch. Das liegt nicht nur an der Unterwerfung der Medien durch die SNS. Der Opportunismus und die politische Impotenz der Opposition sind ebenso gewichtige Faktoren.

Das Bündnis hat ein »30-Punkte-Programm« verfasst, dessen Inhalt kaum mehr als oberflächliche Absichtserklärungen und Lippenbekenntnisse umfasst. Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Kampf gegen Armut und Korruption - all das wird versprochen, aber über Änderungen der Macht- und Besitzverhältnisse, die initiiert werden müssten um solche Ansinnen auch umzusetzen, schweigt sich das Bündnis aus. Das verwundert nicht, denn der Horizont der Oppositionskräfte reicht nicht über den des allseits herrschenden neoliberalen Machtblocks hinaus. Ursächlich fußen der Wahlerfolg und die politische Dominanz der SNS unter Aleksandar Vučić auf den von der DS hinterlassenen sozialen und ökonomischen Verwüstungen. In diesem Sinne ist die SNS ein treuer Sachwalter der Politik der 2000er Jahre.

Ein weiteres Problem der gegenwärtigen Proteste ist die Behauptung, sie seien unpolitisch, ein Aufbegehren gegen politische Gewalt, für Meinungsfreiheit und die Achtung der serbischen Verfassung. Eine Bewegung, die sich öffentlich als unpolitisch bezeichnet, beraubt sich ihres politischen Horizonts und begeht einen eklatanten strategischen Fehler.

Sosehr die Forderungen einzeln betrachtet nachvollziehbar sind, bleiben sie doch weit hinter einem politischen Alternativprogramm für eine tiefgreifendere Kursänderung zurück. Ob es so gelingt, die Menschen in Serbien über einen längeren Zeitraum politisch zu mobilisieren, bleibt abzuwarten. Politische und ökonomische Grundsatzforderungen, die den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital mit einer umfassenden Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche - auch der Wirtschaft - verbinden, lassen sich aber an den Rändern der Protestmärsche vernehmen. Verschiedene, bisher zerstrittene linke Organisationen marschieren nun gemeinsam. Sie fordern einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik und scheuen sich nicht, das Wort Sozialismus in den Mund zu nehmen. Die slowenische Linkspartei »Levica« hat erfolgreich gezeigt, dass die Debatte um eine sozialistische Alternative kein Luftschloss bleiben muss und immer mehr Menschen begeistern kann.

Die SNS wandelt sich immer mehr zu einer autoritär-populistischen Partei. Sie sucht den Schulterschluss mit den Überbleibseln der serbischen Arbeiterklasse, ohne Politik in ihrem Sinne zu machen; sie beklagt eine Medienkampagne, obwohl sie die öffentlich-rechtlichen und einen Großteil der privaten Medien vollständig unter Kontrolle hält; sie prangert den Elitismus und die Korruption des liberalen Blocks an, bereichert aber führende Parteikader durch Großbauprojekte und macht Beschäftigung im öffentlichen Sektor vom Parteibuch abhängig.

Auch wenn die Verteidigung spezifischer Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie wie Presse- und Meinungsfreiheit ein hohes Gut darstellt, eine ernste Herausforderung für die gegenwärtige Regierung stellen die Proteste nicht dar. Die Artikulation der sozialen Frage, verbunden mit umfassenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Demokratisierungsforderungen, würde eine ungleich größere Herausforderung für die Regierenden darstellen. Vor allem wenn die bisher äußerst passiven Gewerkschaften die Proteste unterstützen würden. Das erstmalige Zusammengehen des linken Blocks könnte ein Indiz dafür sein.

Krunoslav Stojaković ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad

Dieser Artikel wurde zunächst am 9. Januar 2019 in Neues Deutschland veröffentlicht.

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