Sherpa als Agent
Der „Terrorismusexperte“ Sinan Selen wird neuer Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Das meldete das Nachrichtenmagazin Focus mit dem Hinweis, dass der türkischstämmige Jurist „der erste Topbeamte mit Migrationshintergrund innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden“ sei. Wann genau Selen seinen Dienst antritt, steht noch nicht fest. Doch im Umfeld von AfD und Pegida ist das Geschrei jetzt schon groß. Das rechtsextrem-völkische Milieu sieht Islamisierung und Untergang des Abendlandes nahen, weil ein Muslim zweiter Mann einer Bundesbehörde wird. Dagegen besteht unter linken türkischen und kurdischen Exiloppositionellen in der Bundesrepublik eher die Befürchtung eines noch engeren deutsch-türkischen Schulterschlusses zu ihren Lasten.
Selen begann seine Karriere im Jahr 2000 beim Bundeskriminalamt. 2009 wechselte er zur Bundespolizei und dann 2011 ins Bundesministerium des Inneren, wo er als Referatsleiter für die internationale Terrorismusabwehr verantwortlich war.
Vor dem Hintergrund der Aushandlung des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und Erdogan vereinbarten die Innenminister Deutschlands und der Türkei im Januar 2016 einen neuen Mechanismus zur Terrorismusbekämpfung. Zur Koordination der Antiterrorkooperation wurden sogenannte Sherpas – also Unterhändler – beider Regierungen ernannt. Für die deutsche Seite war das Selen. Sicherlich wurde Selen auch aufgrund seines türkischen Migrationshintergrunds mit entsprechenden Sprach- und Kulturkenntnissen für diese Stellung ausgewählt, doch es war auch eine Geste der ausgestreckten Hand an Ankara. Die Bundesregierung erhoffte sich ja zu diesem Zeitpunkt Zugeständnisse im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals.
Während der Deal wie geplant zustande kam hielt es Selen indessen nicht allzu lange auf seinem Sherpa-Posten. Stattdessen wechselte er in die Privatwirtschaft als Leiter der Konzernsicherheit beim Reiseriesen TUI, wo ihn nun erneut der Ruf des Staates ereilte mit dem Angebot, künftig der zweite Mann beim Inlandsgeheimdienst zu sein. Denn der bisherige Vizepräsident Thomas Haldenwang ist ja jetzt an die Spitze des Geheimdienstes vorgerückt, nachdem der bisherige Präsident Hans-Georg Maaßen wegen seiner verharmlosenden Äußerungen im Zusammenhang mit rechtsextremen Aufmärschen in Chemnitz für die Regierungskoalition nicht mehr tragbar war.
Mit der Ernennung Selens auf diese Position verfolgt die Bundesregierung zwei Ziele. Zum einen soll so das Vertrauen von Bürgern mit Migrationshintergrund in den Geheimdienst wieder hergestellt werden. Denn dieses hatte arg gelitten durch die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes im neonazistischen Milieu, wo V-Leute des Geheimdienstes eher zum Schutz und zur Stärkung rechter und rechtsterroristischer Gruppierungen wie der NPD oder der mörderischen NSU-Terrorzelle beitrugen als zur Aufklärung über derartige Umtriebe. Zum anderen ist die Wahl des früheren „Sherpa“ auch ein Signal an die Türkei, dass im vergangene Jahr zumindest an der Oberfläche erschütterte Vertrauensverhältnis zwischen beiden Ländern weiter zu verbessern.
Der frühere Verfassungsschutzchef Maaßen galt als Kritiker der türkischen Politik –aus einer rechten, islamfeindlichen Position heraus. So gelangte im August 2016 eine eingestufte Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion an die Medien, wonach sich die Türkei als „Resultat der vor allem seit dem Jahr 2011 schrittweise islamisierten Innen- und Außenpolitik Ankaras zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt habe“. Benannt wurden die Muslimbruderschaft, die palästinensische Hamas und die bewaffnete islamistische Opposition in Syrien. Im Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2017 wurden dann der dem Religionsamt der türkischen Regierung unterstehende Moscheendachverband DITIB und die AKP-Lobbyvereinigung UETD im Kapitel über Spionageaktivitäten benannt. Diese explizite Benennung der Aktivitäten eines befreundeten NATO-Geheimdienstes in einem Kapitel, das sich ansonsten der Agententätigkeit von „Schurkenstaaten“ wie Russland oder Iran widmet, durfte getrost als Warnschuss in Richtung Ankara verstanden werden. Welche Haltung das neue Führungsduo Haldenwang-Selen hier zukünftig einnimmt, bleibt abzuwarten.
Die Befürchtung wonach es nun zu einer noch schärferen Verfolgung der kurdischen Freiheitsbewegung und türkeistämmiger Revolutionäre kommen könnte, ist allerdings realistisch. Dies entspricht der Logik der primär an wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen orientierten Beziehungen zwischen den herrschenden Klassen Deutschlands und der Türkei.
Die türkische Regierung fordert die Auslieferung führender Kader der Gülen-Bewegung wie des früheren Staatsanwalts Zekeriya Öz oder des mutmaßlich in den Putschversuch vom Juli 2016 verwickelten „Luftwaffenimam“ Adil Öksüz. Doch die Bundesregierung hält ihre schützende Hand über die Gülen-Sekte, die hierzulande nicht als terroristisch eingestuft wird.
Umgekehrt hat die türkische Regierung kein wirkliches Interesse daran, gegen die von der Bundesregierung als terroristische Gefahr eingestuften Gruppierungen Islamischer Staat und Al Qaida vorzugehen, da deren Kämpfer als Söldner für die neoosmanischen Eroberungspläne Erdogans fungieren. Gemeinsame Schnittmenge in der deutsch-türkischen Antiterrorzusammenarbeit bleiben damit die anatolischen und kurdischen Linken. Die Gefahr, dass die Repression gegen die PKK, die DHKP/C, die TKP-ML und andere linke Gruppierungen in Deutschland weiter zunimmt, um Ankara wohlgesonnen zu stimmen, besteht so unabhängig von der Personalie Selen. Selen ist in erster Linie ein Beamter an der Spitze einer deutschen Sicherheitsbehörde. Daran sollte er gemessen werden und nicht an seiner Herkunft. Es wäre die Methode der völkischen Rechten - von AfD und Pegida in Deutschland sowie von AKP und Grauen Wölfen in der Türkei – die Kritik an einer Person an deren ethnischer Herkunft festzumachen.
Der zurecht bei großen Teilen der Bevölkerung negativ beleumundete Verfassungsschutz wird nicht besser oder schlechter durch den neuen Vizepräsidenten. Die Politik des Inlandsgeheimdienstes ergibt sich aus seiner Aufgabe als Hüter der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung. Dass ein demokratisch nicht kontrollierbarer Geheimdienst mit dem Schutz der Verfassung betraut wird, ist ein Paradox, an dem eine Personal- oder Strukturreform des Dienstes nichts Wesentliches ändern wird. Daher fordert DIE LINKE. die Auflösung des Verfassungsschutzes als Geheimdienst.
Nick Brauns ist Journalist und Historiker und arbeitet schwerpunktmäßig zur Türkeipolitik und den deutsch-türkischen Beziehungen. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag Ulla Jelpke.
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