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„Wir brauchen eine irakische nationale Identität“

Vor einem Jahr gewann das Bündnis Sairun (Vorwärts) die Wahlen im Irak. Die KP Iraks hatte sich an diesem ungewöhnlichen Wahlbündnis beteiligt und konnte mit zwei Abgeordneten ins Parlament einziehen. Wir haben uns mit dem Generalsekretär der KP Iraks Raid Fahmi über das Bündnis mit den Sadristen um den schiitischen Kleriker Muktada al-Sadr, die Erwartungen der irakischen Bevölkerung und die schwierigen Verhältnissen in der Region unterhalten.

An den letzten Wahlen nahm die KP Iraks zusammen mit der Sadristen-Bewegung teil. Wie kam das?

Diese politische Allianz bei der Wahl geht zurück auf unsere gemeinsamen Aktionen während der Protestbewegung vor den Wahlen. Die Protestbewegung begann im Juli 2015. Die Sadristen beteiligten sich ab 2016. Zwei Jahre lang haben wir im Kampf gegen die Korruption und für Reformen und soziale Gerechtigkeit zusammengearbeitet. Es gab Koordinationskommitees, die sich. zweieinhalb Jahre lang jede Woche trafen. Das trug dazu bei, die Ängste zwischen Menschen mit einem islamischen oder säkularen Hintergrund beizulegen. Das legte den Grundstein für die politische Allianz in 2018.

Auf welcher Grundlage bildeten Sie die Allianz?

Es ist keine ideologische Allianz, sondern eine politische. Die Grundlage unserer gemeinsamen Aktionen war unser gemeinsames politisches Programm. So hatten wir es zwischen uns vereinbart. An den Wahlen nahmen wir zusammen teil und führten auch den Wahlkampf gemeinsam. Dadurch entstand eine gewisse Dynamik und wir kamen als die größte Liste aus den Wahlen.

Wie hat sich nun das Parlament geändert?

Wir Kommunisten waren im Parlament nicht vertreten. Jetzt haben wir zwei Abgeordnete. Die Sadristen hatten 32 Abgeordnete. Jetzt haben sie 52. Seit September 2018 arbeiten wir auch im Parlament zusammen. Ich denke, die Gruppe hat bereits nachgewiesen, dass sie die stärkste und homogenste Gruppe ist, obwohl die Charakteristika der Bestandteile sehr unterschiedlich sind. Diese Einheit erlaubte uns innerhalb des Parlamentes eine einflussreiche Rolle zu spielen. Unsere Liste war eine der beiden Listen, die den Premier vorschlugen. Wir hoffen, dass das dazu führt, das politische Gleichgewicht zugunsten von Reformen zu verändern.

Was ist aus der Protestbewegung geworden?

Während wir im Parlament mit den Sadristen zusammenarbeiten, vernachlässigen wir die Arbeit außerhalb des Parlamentes auch nicht. Kommunisten und Demokraten setzen ihre Arbeit in der Protestbewegung fort. Wir gehen also zwei parallele Wege, die keineswegs widersprüchlich sind. Wir glauben, dass wir auf diese Weise zu einer positiven Gesetzgebung, zu sozialer Gerechtigkeit und zu wirtschaftlichen Reformen kommen werden. Dennoch gibt es natürlich auch Felder, wo wir uns nicht einig sind. Dann behält jede Partei ihre eigenen Positionen.

Was sind denn die wichtigsten Herausforderungen ?

Der irakische Staat, der 2003 praktisch kollabrierte, wurde, auf einer falschen Grundlage wiederaufgebaut - nämlich auf ethnischen und konfessionellen Grundlagen. Jetzt stellen wir fest, dass dieses System ineffektiv ist. Die inneren Strukturen des Staates sind schwach. Der Staat selbst ist zu einem Feld von sich gegenseitig bekämpfenden Kräften verkommen, die dort ihre Konflikte austragen, um mehr Privilegien zu erhalten. Dieser Staat bot den Boden für Korruption.

Gleichzeitig fehlte eine koordinierte Wirtschaftspolitik. Der Irak ist heute mehr denn je abhängig vom Öl. 90 Prozent des Haushalts wird von Rohöleinnahmen finanziert. Sie machen 60 Prozent des BIP aus. Arbeitslosigkeit ist ein Problem. Die materielle und soziale Infrastruktur bricht zusammen. Auch die Bildungs- und Gesundheitssysteme brechen zusammen. In den letzten Jahren entstanden private Bildungs- und medizinische Institutionen. Das bedeutet jedoch, dass Menschen, die sich das nicht leisten können, weder die notwendige medizinische Betreuung, noch die notwendige Bildung bekommen. Das vertieft die soziale Spaltung.

Wie wollen Sie dagegen vorgehen?

Wir brauchen ein nationales Aktionsprogramm. Wir müssen ein festes Fundament bauen, das mehr auf einer irakischen nationalen Identität beruht, als auf der sekundären Identität, sei es ethnisch oder konfessionell. Wir glauben, dass ein derartiges gemeinsames Fundament nur durch die Gewährleistung von Freiheiten gelegt werden kann. Dazu brauchen wir natürlich ein geeignetes Kräfteverhältnis. Denn es gibt starke Kräfte, die ein Interesse daran haben, den Statusquo zu behalten. Aber der Staat ist gescheitert und die Menschen suchen eine bessere Alternative. Unsere Allianzen mit den Sadristen oder demokratischen Kräften sind darauf gerichtet und haben eine Chance.

Mit welcher Strategie wollen Sie der Einflussnahme aus den Nachbarländern begegnen?

Nicht nur die Nachbarländer, sondern auch Großmächte wie die USA nehmen Einfluss auf das Geschehen in unserem Land. Außerdem gibt es den Iran, die Türkei und gewisse arabische Länder. Dass sind die Konsequenzen des Krieges. Wir sind aber fest davon überzeugt, dass der Irak nicht Teil einer Aggression gegen ein Nachbarland werden sollte. Wir sollten auch militärischen Allianzen fernbleiben. Der Irak muss Konflikte vermeiden. Wegen den genannten Einmischungen ist das nicht einfach. Wenn wir jedoch unsere eigene Vision einer Unabhängigkeit entwickeln, können wir dem Druck wahrscheinlich standhalten.


Julia Wiedemann ist Referentin im Bereich Internationale Politik in der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE und arbeitet zum Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten und Türkei.


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