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Katharina Tetzlaff

"Nur Lula kann über die Linke hinausreichen"

Martin Heinlein / CC BY 2.0

Am 8. März 2021 hob das Oberste Gericht Brasiliens die umstrittenen Urteile gegen den ehemaligen Präsidenten des Landes, Inácio Lula da Silva, auf.

28.3.2021


Der ehemalige Verteidigungsminister Brasiliens, Celso Amorim, im Gespräch mit Katharina Tetzlaff


Vor drei Wochen hob das Oberste Gericht Brasiliens die umstrittenen Urteile gegen den ehemaligen Präsidenten des Landes, Inácio Lula da Silva, auf. Der in Brasilien beliebte Politiker Lula war 2018, kurz vor der Präsidentschaftswahl, mit zweifelhaften Korruptionsvorwürfen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Sein wahrscheinlicher Wahlsieg wurde damit verhindert, der rechtspopulistische Jair Bolsonaro wurde Präsident und Sérgio Moro, der Richter, der Lula verurteilte, wurde Justizminister unter Bolsonaro. Nun ist Lula wieder frei und flößt den Linken in Brasilien neue Hoffnung ein. Katharina Tetzlaff sprach mit Celso Amorim, dem ehemaligen Verteidigungsminister Brasiliens, über Lulas Prozess, die Gefahr eines Putsches und die Möglichkeit einer erneuten Kandidatur Lulas bei der Präsidentschaftswahl nächstes Jahr.

Beginnen wir mit den guten Nachrichten: das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Brasiliens Lula da Silva wurde niederlegt. Alle wollen nun wissen, ob Lula der nächste Präsidentschaftskandidat für die PT sein wird. Aber bevor wir dazu kommen, erkläre doch bitte, was mit Lulas Verfahren geschah?

Es ist kompliziert. Vor eineinhalb Jahren wurde Lula aus unterschiedlichen Gründen aus dem Gefängnis entlassen, The Intercept unter anderen hatten seine Unschuld bewiesen. Es hatte Absprachen zwischen Richter und Staatsanwalt gegeben. Das ist absurd - und das wäre in jedem Rechtsstaat absurd! Es gab eine Verschwörung gemeinsam mit den Medien, um der PT zu schaden. Der verantwortliche Richter Sergio Moro wurde dann Justizminister im Bolsonaro-Kabinett. Ein anderer Richter, der ebenfalls mit der sogenannten „Lava-Jato-Operation“ und mit Lulas Fall befasst war, übernahm. Und dann plötzlich, am 8. März 2021, entschied dieser Richter, der Distrikt von Curitiba sei nicht zuständig für diesen Fall. Also hob er alle Urteile gegen Lula aufgehoben. Dadurch erhielt Lula automatisch alle seine politischen Rechte zurück.

Es gibt schon die mahnenden Stimmen, die sagen, der Fall könnte wiedereröffnet werden?

Meine Erwartung ist, dass das Urteil bestätigt wird. Der Richter übersandte den Fall nach Brasilia, das ist theoretisch der zuständige Distrikt. Aber die meisten Menschen glauben, dass das Verfahren nicht wieder eröffnet wird, ich glaube das auch nicht. Niemand hält das für möglich, es ist sehr unwahrscheinlich.

Lula kehrt nun zurück auf die politische Bühne, seine Rede vom 10. März bei der Metallarbeitergewerkschaft in Sao Paulo stieß weltweit auf Resonanz, er benannte die Fehler und Versäumnisse von Bolsonaro…

Ja, die Rede war sehr wichtig! Sogar der ehemalige Sprecher des Parlamentes, ein sehr konservativer Mann, der sagte: Ja, das war die Rede eines Staatsmannes. Mit dem, was er zur Pandemie sagte, seine Sorge über das Gesundheitssystem, über das Sozialwesen, verschiebt Lula die politische Agenda. Auch sein Einsatz für ein international unabhängigeres Brasilien ist wichtig. Er hat einfach großen Einfluss. Beispielsweise trug Bolsonaro niemals eine Maske, nach Lulas Rede trug er plötzlich eine Maske.

Schauen wir uns die Lage in Brasilien genauer an: die Zahl der Corona-Toten sind mit die höchsten in der ganzen Welt, das Gesundheitssystem kollabiert an manchen Orten. Bolsonaro blockiert Lösungen und trägt die Verantwortung für das katastrophale Ausmaß. Wie schätzt du die Lage ein?

Brasilien erlebt die größte humanitäre Krise in der Geschichte. Und natürlich wird die humanitäre Krise begleitet von einer hohen Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut. Etwa 280 000 Menschen starben. Die Zahl der Infizierten wächst wieder. Im Gebiet des Amazonas konnten die Menschen nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden, sie erstickten! Menschen mit anderen Krankheiten können nicht mehr ausreichend behandelt werden. Es ist alles schrecklich, absolut schrecklich. Brasilien hat eigentlich ein relativ gutes Gesundheitssystem, sowas dürfte nicht passieren.

Wie weit ist man in Brasilien mit dem Impfen gekommen? In Deutschland konnte ich der Presse entnehmen, dass medizinisches Personal leere Impfungen, sogenannte „Windimpfungen“ verspritzten, um dann das Vakzin auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen…

Vielleicht passiert das mal hier oder dort, aber diese „Windimpfungen“ sind nicht das Problem. Das Problem ist, dass zu spät mit Impfen begonnen wurde. Es gibt ein Durcheinander, keine Planung. Eigentlich sollte die Bundesregierung hier die Fäden in der Hand halten, aber diese Regierung macht ihren Job nicht, sie schafft Chaos. Bolsonaro war gegen das Impfen, sprach von einer „kleinen Grippe“. Nun änderte er endlich seine Meinung. Bisher wurden aber nur 4-5 Prozent der Bevölkerung geimpft.

Bei diesem totalen Versagen von Bolsonaro, möchte ich dich fragen: wer sind die Unterstützer*innen von Bolsonaro?

Insgesamt schrumpft die Unterstützung. Die Rechtsextreme unterstützen ihn. Und es gibt ein paar klientelistische Parteien, sie unterstützten zuerst Dilma und später Bolsonaro. Sie hängen sich immer an die, die an der Macht sind. Sie haben nicht viel von einem eigenen Programm und sie sind auch untereinander uneins. Sie wollen sich alle Optionen offenlassen, um ihre Macht zu behalten. Die Medien beschreiben sie als Mitte, aber sie sind nicht in der Mitte, sie gehen überall hin! Sie haben etwa ein Drittel der Sitze im Parlament. Aber zum Beispiel der Gouverneur von Sao Paulo, der eigentlich rechts der Mitte steht, wandte sich von Bolsonaro zu Beginn der Pandemie ab.

Und in der Bevölkerung?

Ich würde sagen, innerhalb der Bevölkerung liegt die Zustimmung für Bolsonaro bei 25-30%. Sie lag mal bei 42%, am Anfang war sie noch höher. Unterschiedliche Leute unterstützen Bolsonaro. Ein bisschen wie die Unterstützer*innen von Donald Trump, auf einem anderen Level. Nehmen wir mal als Beispiel einen Taxifahrer: er hat wahrscheinlich mehr gegen die Gleichberechtigung von Schwarzen und Frauen, als dass er sich darum kümmert, dass Reiche immer mehr Geld verdienen und reicher werden, darüber macht er sich keine Gedanken. Und natürlich steht die Mehrheit der Evangelikalen hinter Bolsonaro. Neulich erzählte eine Bekannte, die in den armen Vierteln von Sao Paulo arbeitet, dass die Menschen dort sagten, Bolsonaro sei nicht für ihre Lage verantwortlich. Das sei, das was ihr Pastor ihnen erzählt: Bolsonaro könne nichts dafür. In den traditionellen Kirchen sieht es anders aus. Nicht dass sie für Lula sind, aber sie sind auch nicht für Bolsonaro. Die Kirchen haben großen Einfluss auf die Menschen.

Wie steht es um das Militär? Es gibt mehr Militär in der Regierung von Bolsonaro als während der Zeit der Militärdiktatur.

Viele in der Armee sind sehr konservativ und sehr rechts. Aber sie haben nicht unbedingt Einfluss. Bolsonaro verteilte viele Jobs. Auch wenn ich es nicht genau weiß, aber ich würde sagen, die Militärs sind nicht besonders glücklich mit Bolsonaro. Sie fürchten, dass das schlechte Image auf sie abfärbt und auf die lange Sicht ihnen schadet. Auf der anderen Seite nehmen sie sehr wohl wahr, was Bolsonaro für sie tut und dass so viele Militärs in der Regierung vertreten sind.

Gibt es die Gefahr eines Putsches?

Ich kann mir vorstellen, dass auch in Brasilien so etwas stattfinden kann, wie es in den USA nach den Wahlen passierte. Dort hatten Demonstranten das Capitol gestürmt und eingenommen. Ich weiß nicht, wie das Militär sich in so einem Fall verhalten würde. Ich kann mich irren, aber ich denke nicht, dass sie einen Putsch unterstützen würden. Die Geschichte in Lateinamerika zeigte uns bisher, dass ein Putsch nur gelingt, wenn die Eliten ihn befürworten. So war es immer. Die Rechtsextreme sind sehr militant, das bereitet auch vielen Vertreter*innen im Kongress und im Obersten Gericht große Sorgen. Wenn sie demonstrieren, demonstrieren sie nicht gegen Lula, sie demonstrieren gegen das Oberste Gericht. Es gibt viele unterschiedliche Einstellungen und Meinungen, auch innerhalb der Armee. Ich möchte noch ein Beispiel nennen. Jüngst nach Lulas Rede sagte Hamilton Mourao, Vizepräsident und General, ein echter Hardliner: „Ich mag Lula nicht, ich denke, die Leute sollten ihn nicht wählen. Aber wenn sie ihn wählten, was könnte ich tun?“

Du gehst also davon aus, dass wenn Lula nächstes Jahr zu den Wahlen kandidiert und gewählt würde, es würde akzeptiert werden?

Ja, wenn Lula der Kandidat wäre und gewänne, es würde akzeptiert werden. Aber erstmal müssen wir uns auf das Jahr 2021 konzentrieren! Das ist vor allem eine politische Frage. Die soziale Lage ist sehr angespannt, es könnte nur einen Funken zum Explodieren brauchen. Die Arbeit, die Lula jetzt macht, die macht er um die jetzige Lage zu verbessern, nicht für die Wahlen. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von 14 Prozent. Schon vor der Pandemie war die Situation schwierig, sie hat sich sehr verschlechtert.

Was ist notwendig, um Bolsonaro bei den nächsten Wahlen zu besiegen? Wird Lula der Kandidat und würde das linke politische Lager ihn geeint unterstützen?

Vorweg, Lula ist mehr als die Linke. Und ich bin überzeugt, dass Lula 2022 bessere Chancen hat als Bolsonaro, aber es ist noch lange hin. Die Nominierung ist erst im April nächsten Jahres. Schon bei den Kommunalwahlen bildeten wir Bündnisse mit der Kommunistischen Partei Brasiliens (PcdoB)und der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), in Sao Paulo hätten wir den Kandidaten der PSOL, Guilherme Boulos, gleich unterstützen sollen. Leider konnte er sich in der Stichwahl nicht durchsetzen, obwohl er es wirklich gut machte. Die Wahlen waren kein komplettes Desaster, vor allem, wenn wir die Gesamzahl unserer Wähler*innen betrachten.  Aber wir haben keine einzige regionale Hauptstadt gewonnen. Nicht eine. Um zu Lula zurückzukommen: wie ich schon sagte, er setzt die politische Agenda. Die Medien können ihn nicht länger ignorieren. Lula könnte Bolsonaro besiegen, er ist den Menschen nah, das können nicht viele. Aber Bolsonaro kann mit Menschen auch gut umgehen, obwohl er ihre niedersten Instinkte anspricht: Chauvinismus, Rassismus, Egoismus. Er ist das Gegenteil von Lula. Mein Tipp ist, dass sowohl die PcdoB, als auch die PSOL, vielleicht sogar die Sozialistische Partei - die keine Sozialisten sind - Lula unterstützen würden. Wenn Lula nicht der kandidierte, dann würde jede Partei mit einem eigenen Kandidaten antreten. Aber ich denke, dass Lula kandidieren wird. Lula ist der Einzige, der in angemessener Art und Weise über die Linke hinausreichen kann.

Die PT regierte 14 Jahre. Es gibt Kritik, auch von Linken, die sagen, die PT reflektiere die Regierungszeit nicht genug, es gibt beispielsweise Vorwürfe, die PT habe zu eng mit dem Agrobusiness kooperiert, auf Kosten von Indigenen und auf Kosten der Umwelt…

Zuerst, ich bin zwar Mitglied der PT, aber ich habe keine formale Position. Aber ich bin sicher, dass diesen Fragen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden wird. Wir müssen Umweltfragen stärker in den Fokus nehmen, aber auch Fragen von Ethnien und Gender. Rassimus ist ein Problem und muss weiter adressiert werden. In Brasilien leben  - direkt nach Nigeria - die meisten Menschen mit afrikanischer Herkunft auf der Welt. 51 Prozent der Menschen in Brasilien geben an, afrikanischer Herkunft zu sein. Beim Thema Klima sehen wir auch, dass internationale Faktoren uns beeinflussen. Bernie Sanders zum Beispiel will eine Green Economy, das hat auch Einfluss bei uns. Auch wir in der PT diskutieren diese Themen. Aber wir brauchen auch Jobs und gleichzeitig sind wir offen für mehr Umweltschutz. Was wir brauchen ist mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land und mehr internationale Autonomie. Aber Lula und Dilma haben viel erreicht. Manchmal kommt die Kritik mir ungerecht vor: man kann sich an einem Ideal messen, dann gibt es noch sehr viel zu tun, oder man setzt die Vergangenheit als Maßstab an, dann wurde viel erreicht.

Muito obrigada!


Celso Amorim ist Diplomat und Politiker der Arbeiterpartei PT. Er war Außenminister Brasiliens von 1993 bis 1994 und von 2003 bis 2011, sowie Verteidigungsminister von 2011 bis 2014.


Katharina Tetzlaff ist Referentin im Bereich Internationale Politik in der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE und zuständig für Lateinamerika.


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Wichtiger Hinweis: Namentlich gezeichnete Beiträge geben die persönliche Meinung der Autorin bzw. des Autoren wieder.